Krisen, Kriege, Klimawandel: Die Gegenwart wirkt auf viele Menschen unübersichtlich, verunsichernd und belastend. Im Gespräch mit Michael Trautmann auf dem Work Culture Festival 2025 analysierte der Tiefenpsychologe und Gründer des rheingold Instituts, Stephan Grünewald, wie diese „aufgewühlte Gesellschaft“ unsere Arbeitskultur verändert und welche Verantwortung dabei Unternehmen zukommt.
Rückzug ins Private und seine Folgen
Grünewald beschreibt ein Phänomen, das er in zahlreichen Tiefeninterviews beobachtet hat. Menschen ziehen sich zunehmend aus der öffentlichen Welt zurück. Sie erleben die globale Krisenlage als permanente Bedrohung, als „Zombie-Krisen“, die nicht verschwinden, sondern immer wiederkehren. Die Folge ist eine Art „Verdrängungsvorhang“ – ein psychologischer Schutzmechanismus, der Menschen dazu bringt, sich in ihre überschaubare Privatwelt zurückzuziehen. Diese Dynamik wirkt sich auch auf die Arbeitswelt aus. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Kontrolle führte dazu, dass viele das Homeoffice als Rückzugsort zu schätzen gelernt haben. Grünewald spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „betriebsinternen Biedermeier“. Es ist eine Flucht ins Vertraute, bei der Menschen zwar effizient agieren, aber langfristig Bindungen und Identifikation verlieren.
Long-Homeoffice: Verlust von Gestalt, Reibung und Resonanz
Während das Homeoffice zu Beginn der Pandemie mit neuer Freiheit und Selbstwirksamkeit verbunden wurde, zeigen Grünewalds Forschungen, dass sich langfristig auch negative Effekte einstellen können. Er spricht von einem „Long-Homeoffice“: Wer dauerhaft zu Hause arbeitet, verliert die Kontur des eigenen Arbeitsalltags. Die Grenzen verschwimmen. Arbeit beginnt und endet nicht mehr klar, soziale Resonanz fehlt, Sinnlichkeit und Reibung gehen verloren. Deutlich wird dies in der metaphorisch zugespitzten Beschreibung: Wer zu lange in der körperwarmen Badewanne sitzt, verliert das Gefühl für sich selbst. Ein Bild, das das Gefühl vieler Homeoffice-Arbeitender pointiert beschreibt. Die Folge ist eine schleichende Entfremdung von Unternehmen, Teams und letztlich von sich selbst.
Vom Werkstolz zum Erschöpfungsstolz
Ein zentrales Thema im Talk war die Frage, was Menschen heute an ihre Arbeit bindet. Grünewald identifizierte sechs sogenannte Kohäsionsfaktoren: Teambezug, Werkstolz, Flexibilität, Wertschätzung, persönliche Entwicklung und eine gemeinsame Mission. Besonders auffällig ist, dass der Werkstolz, also das Gefühl, etwas geleistet und vorangebracht zu haben, zunehmend durch Erschöpfungsstolz ersetzt wird. Es zählt nicht das Ergebnis, sondern wie ausgelaugt man sich am Abend fühlt. Grünewald warnt: Wenn Menschen nur noch durch Überarbeitung Anerkennung erfahren, ist der Weg in die Burn-out-Kultur vorprogrammiert. Bindung entstehe nicht durch Selbstausbeutung, sondern durch Verantwortlichkeit, Gestaltungsmöglichkeiten und echte Wirksamkeit, so seine These.
Das Büro muss wieder attraktiver werden
Der Rückweg ins Büro wird nicht durch Präsenzpflichten oder eindringliche Appelle gelingen. Darüber sind sich mittlerweile viele Experten einig. Stephan Grünewald betont: „Wir brauchen betrieblichen Magnetismus.“ Damit ist eine neue, positive Anziehungskraft des Unternehmensorts gemeint, die über das reine Erfüllen einer Arbeitspflicht hinausgeht. Denn wer sich im Homeoffice mit eigener Kaffeemaschine, kurzen Wegen und flexiblem Zeitmanagement gut eingerichtet hat, kommt nur dann gern zurück, wenn das Büro mehr als nur Bildschirm und Schreibtisch bietet. Grünewald fordert daher eine bewusste Neugestaltung der Arbeitsumgebung. Das Büro der Zukunft muss ein Ort sein, der emotionale Bindung und Sinnlichkeit zulässt sowie auf unterschiedliche Arbeitsweisen und ‑bedürfnisse reagiert. Nur wenn die Räume mit der Geborgenheit und Individualität des privaten Umfelds konkurrieren können, entsteht überhaupt wieder der Wunsch, sich auf den Weg zu machen. Konkret identifiziert Grünewald vier zentrale Raumtypen, die eine solche magnetische Wirkung entfalten können:
1. Räume für konzentriertes Arbeiten: Sie bieten Rückzug, Ruhe und Struktur. Gerade für diejenigen, die zu Hause keine optimale Arbeitsumgebung haben – etwa aufgrund von Lärm, fehlender Ausstattung oder familiärer Ablenkung –, sind solche Orte im Büro wichtig. Sie schaffen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Unternehmens und geben den Mitarbeitern das Gefühl, gut aufgehoben zu sein und produktiv arbeiten zu können.
2. Räume für kollaboratives Arbeiten: Hier geht es um Begegnung, Austausch und Teamprozesse. In Zeiten hybrider Arbeitsmodelle ist es entscheidend, gezielt Orte zu schaffen, an denen Teams jenseits starrer Konferenztische gemeinsam an Lösungen arbeiten können. Flexible, dialogfreundliche Umgebungen fördern nicht nur die Effizienz, sondern auch das Zugehörigkeitsgefühl und den Teamgeist.
3. Kreative Räume: Sie inspirieren durch ungewöhnliche Gestaltung, offene Strukturen und Spielräume. Hier darf es auch mal schräg zugehen, denn Kreativität entsteht oft dort, wo die Umgebung aus dem Gewohnten ausbricht. Farben, Materialien, Licht und Möblierung sollten gezielt Impulse setzen. Wer gemeinsam Ideen entwickeln soll, braucht ein Umfeld, das Neugier und Perspektivwechsel unterstützt.
4. Feierräume: Soziale Bindung braucht mehr als Meetings. Es sind gemeinsame Erlebnisse, die aus Kollegen ein Team machen. Deshalb müssen auch Orte geschaffen werden, an denen Gemeinschaft gefeiert, Erfolge geteilt und Beziehungen gepflegt werden können. Ob bei kleinen, spontanen Runden oder bei geplanten Events: Diese Räume fördern das emotionale Zugehörigkeitsgefühl, das bei Remote-Arbeit häufig verloren geht.
Grünewalds zentrale Botschaft lautet: Nur wenn das Büro als Ort mit Sinn, Struktur und sozialer Qualität verstanden und gestaltet wird, kann es wieder an Relevanz in der Arbeitsrealität der Menschen gewinnen. Der „betriebliche Magnetismus“ entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch einladende Räume, sichtbare Wertschätzung und sinnvolle, gemeinschaftlich erlebbare Arbeit. So wird das Büro vom Ort der Pflichterfüllung zum Resonanzraum für Identifikation und Engagement.
Unternehmen sind als emotionale Heimat gefragt
Grünewalds Plädoyer ist eindeutig: Unternehmen müssen heute mehr sein als bloße Arbeitgeber. Sie brauchen eine emotionale, soziale und gestalterische Qualität. Sie müssen ein Ort sein, an dem Menschen nicht nur arbeiten, sondern sich verbunden fühlen. In einer orientierungslosen Gesellschaft, die sich in Rückzugsbewegungen verliert, können Unternehmen ein neues Zentrum der Sinn- und Gemeinschaftsstiftung werden. Voraussetzung ist allerdings, dass Führung diesen Wandel erkennt und aktiv gestaltet. Und: Der Wandel zur magnetischen Organisation beginnt nicht mit einem Raumkonzept, sondern mit einer Haltung. Wer heute mutig gestaltet, kann morgen mehr bieten als nur Arbeit, nämlich Zugehörigkeit, Orientierung und Sinn.