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EU-Projektupdate R‑evolve: Interview mit dem Nachhaltigkeitsexperten Volker Weßels

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EU-Projektupdate R-evolve: Interview mit dem Nachhaltigkeitsexperten Volker Weßels
IBA Redaktionsteam IBA Redaktionsteam ·
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Im September trafen sich die Partner des EU-Projekts R evolve zu einem dreitägigen Innovation Camp in Kopenhagen. Ziel war es, greifbare Wege in Richtung einer „Circular Economy“ aufzuzeigen – vom Produktdesign über die Herstellungsprozesse bis hin neuen Geschäftsmodellen, jeweils unterstützt durch die Daten im Digital Product Passport (DPP). Wir haben mit Volker Weßels über zentrale Erkenntnisse, den aktuellen Stand des DPP und dessen praktische Umsetzung in Unternehmen gesprochen.

Herr Weßels, was haben Sie aus Kopenhagen für die Branche mitgenommen?

Die wertvollste Erkenntnis: Der digitale Produktpass ist viel mehr als nur ein Tool zur Einhaltung von Vorschriften. Bei richtiger Nutzung kann er die Beziehung zu Kunden stärken, beispielsweise durch verlängerte Garantien oder gezielte Produkt-Updates, die direkt über den Pass angeboten werden. Unternehmen können damit neue Serviceangebote entwickeln und mit ihren Kunden dauerhaft in Kontakt bleiben. Ein weiteres Highlight ist, dass sich Produkte oft mit wenigen, gezielten Änderungen verbessern lassen. Das hat ein Pilotprojekt mit Studierenden gezeigt: Aus einem einfachen Stuhl wurde durch kleine Anpassungen ein Modell, das leichter repariert und wiederaufbereitet werden kann. Das Ergebnis überzeugt nicht nur technisch, sondern ist auch wirtschaftlich plausibel.

In Kopenhagen wurde sogar ein Planspiel zum digitalen Produktpass durchgeführt. Was war das Ziel?

Wir haben ausprobiert, wie ein sogenanntes Governance Framework praktisch funktioniert – also Regeln dafür, wer verlässliche Daten bereitzustellen hat und wer wann auf welche Daten zugreifen darf, wie die jeweiligen Rechte verteilt werden und wie Veränderungen protokolliert werden. Das Planspiel simulierte eine öffentliche Ausschreibung im Jahr 2032 unter dem dann gültigen Ökodesign-Regelwerk. Die Beteiligten nahmen verschiedene Rollen ein. Dazu zählten auf Seiten der beiden konkurrierenden Hersteller unterschiedliche Einheiten – neben der Unternehmensleitung beispielsweise Einkauf, Qualitätsmanagement, Marketing -, außerdem Zulieferer, Refurbisher und Recycler sowie die nationale Marktaufsicht. So konnten wir testen, ob das Regelwerk im Unternehmensalltag und bei wechselnden Anforderungen zusätzlich zu den technischen Standards des Produktpasses praktisch umsetzbar ist.

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Wie fügt sich das in den europäischen Prozess ein?

Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass Elemente unseres Governance Frameworks in eine europäische Branchenlösung einfließen, möglichst eingebettet in ein Mandat der Europäischen Kommission. Damit könnte das Governance Framework europaweit im Möbelsektor eingesetzt werden, um das nötige Vertrauen in die DPP-Daten zu schaffen. Dieser Prozess wird allerdings einige Jahre dauern: Realistisch ist, dass erst 2028 oder 2029 ein entsprechender delegierter Rechtsakt für Möbel (ESPR-Durchführungsverordnung Möbel) verabschiedet wird, an den sich eine Umsetzungsfrist anschließt. Parallel dazu kann der brancheninterne Klärungsprozess laufen, der ebenfalls Zeit benötigt. Wir rechnen mit einer vollständigen Umsetzung bis etwa 2030.

Wo verändert der DPP den Alltag zuerst: bei Herstellern, Handel oder Kunden?

Zunächst betrifft es die Hersteller, denn zukünftig gilt: „Ohne DPP-Daten kein Markt“. Ohne einen DPP gelangt in der EU kein Möbelstück auf den Markt. Konkret: ohne strukturierte Umweltdaten zu CO₂-Fußabdruck, Rezyklat-Anteil, Recyclingfähigkeit, kritischen Stoffen oder Energieverbrauch geht nichts mehr. Wer diese Daten nicht misst, dokumentiert und digital bereitstellt, kann sie später auch nicht im Produktpass hinterlegen. Für den Handel und den Service wird der DPP relevant, sobald sie in die Produkte eingreifen, beispielsweise bei Wartung, Reparatur oder Upgrades. Dann müssen entsprechende Einträge im Pass erfolgen. Dabei ist es wichtig, dass die Zugriffsrechte und Verantwortlichkeiten eindeutig geregelt sind. Der DPP eröffnet außerdem neue Möglichkeiten, direkte Kundenbeziehungen aufzubauen. Im Geschäftskundenbereich (B2B) lässt sich das meist einfacher umsetzen als im Bereich privater Endkunden, wo der klassische Handel oft zwischen Herstellern und Anwendern steht.

Sie haben vorhin den Stuhl-Piloten angesprochen. Was genau wurde verändert und warum ist das wichtig?

Beim Stuhl-Piloten hat das Projektteam das Design und die Konstruktion gezielt überarbeitet. Anstelle der bisherigen Schale mit Metallrahmen wurde eine Kunststofflösung gewählt, in die sich Befestigungspunkte deutlich einfacher integrieren lassen. Das Sitzpolster ist jetzt nicht mehr verklebt, sondern wird einfach geklipst, sodass es sich ohne Beschädigung austauschen oder reparieren lässt. Auch das Untergestell kann flexibel für verschiedene Modelle wie Drehsäule, Vierfuß oder Freischwinger genutzt werden. Dadurch wird die Variantenvielfalt im Sortiment reduziert. Das Ergebnis: Der Stuhl ist leichter zu zerlegen, einfacher zu reparieren und insgesamt nachhaltiger, da weniger Einzelteile benötigt werden und sich diese leichter wiederverwenden lassen – ein echter Fortschritt in ökologischer wie wirtschaftlicher Hinsicht.

R‑evolve arbeitet mit neun Piloten. Gibt es weitere Beispiele und nächste Schritte?

Insgesamt laufen derzeit neun verschiedene Pilotprojekte, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Kreislaufwirtschaft praktisch erproben. Einige dieser Piloten stecken noch in der Anfangsphase, andere, wie ein Rücknahmeprojekt aus dem Küchenbereich, sind bereits weiter: Hier werden gebrauchte Möbel gezielt zurückgeholt und auf Materialien, Hygiene und Wiederverwendung geprüft. Oft gibt es dafür spezielle Anreize für Kunden. Im Bereich des digitalen Produktpasses finden derzeit erste Praxistests mit IT-Partnern statt. Das Governance Framework, also die Regelungen zum Umgang mit Daten, wird auf Basis der Erfahrungen aus Kopenhagen weiterentwickelt. Das Ziel besteht darin, die erfolgreich getesteten Ideen in größerem Maßstab auf mehr Unternehmen auszuweiten und somit die Transformation der Branche messbar voranzutreiben.

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Wie zahlt R‑evolve mit Blick auf Green Deal und ESPR auf die EU-Agenda ein?

Die Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte (ESPR) legt den Rahmen fest, in dem sich zirkuläres Design, Service-Modelle, Datenmanagement und Rücknahmesysteme bewegen. Der DPP ist dabei ein zentrales Element. R‑evolve erprobt, wie sich diese Anforderungen in der Praxis und auf wirtschaftliche Weise umsetzen lassen. Auch wenn politische Entscheidungen schwanken können, läuft die fachliche Arbeit kontinuierlich weiter. Deshalb sind Pilotprojekte und ihre Skalierung so wichtig: Wir brauchen verlässliche Vorbilder, die zeigen, wie Kreislaufwirtschaft funktioniert.

Was raten Sie Unternehmen, die jetzt einsteigen wollen?

Zunächst sollten sie ihre Datenhausaufgaben machen und genau prüfen, welche Umwelt- und Produktdaten sie aus dem Gesamtkatalog der ESPR (Artikel 5, Annex 1) bereits sauber erfassen können und wo es noch Lücken gibt. Dann gilt es, Strukturen zu schaffen. Dazu müssen Messpunkte definiert, Daten geordnet und klare Begriffe und Schnittstellen etabliert werden. Außerdem braucht es klare Prozesse: Wer sammelt Daten, wer prüft sie und wer gibt sie frei? Schließlich rät R‑evolve zum kleinen Anfang: Pilotprojekte starten, Varianten testen und Rücknahmefälle dokumentieren. Denn nur wenn Daten konsistent digital vorliegen, sind sie später auch effizient nutzbar. Das wird der Schlüssel zum Erfolg sein.

Herr Weßels, vielen Dank für das Gespräch.

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Volker Weßels verantwortet beim IBA das Themenfeld Nachhaltigkeit und arbeitet seit Jahren in der europäischen Normung mit. Er leitet das European LEVEL-Programm (Nachhaltigkeitslabel für Büromöbel) und vertritt den IBA im EU-Projekt R‑evolve. Weitere Informationen: iba.online und https://www.levelcertified.eu/de/.

Hinweis: R‑evolve wird von der EU im Rahmen des Programms Horizon Europe (HORIZON-CL6-2024-CircBio-01–3) gefördert. Das Innovation Camp in Kopenhagen bündelte Expertise aus Industrie, Wissenschaft und Politik; im Fokus standen zirkuläre Geschäftsmodelle, zirkuläres Design und der digitale Produktpass. Die Ergebnisse fließen in die laufenden Pilotprojekte und in die Vorbereitung kommender ESPR-Vorgaben ein.

Titelbild: IBA/R‑evolve