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Healing Architecture, die Zukunft der Raumgestaltung? Charleen Grigo im Interview

Healing Architecture

Charleen Grigo. Bild: Nockel Ngoy
IBA Redaktionsteam IBA Redaktionsteam ·
7 Minuten

Architektur beeinflusst unser Wohlbefinden stärker, als uns oft bewusst ist. Nicht nur im Gesundheitswesen, auch in modernen Arbeitswelten kann eine gezielte Raumgestaltung einen großen Unterschied machen. Die Innenarchitektin Charleen Grigo sprach mit der IBA Forum Redaktion über das Konzept der Healing Architecture und über Psychophysiologie in der Raumgestaltung. Im Gespräch erläutert sie, wie architektonische Elemente Heilungsprozesse unterstützen können und welche Auswirkungen dies auf die Bürogestaltung hat.

Frau Grigo, wie ist Ihre Leidenschaft für Healing Architecture und Psychophysiologie entstanden?

Meine Leidenschaft für dieses Thema entwickelte sich während meiner Masterarbeit, in der ich mich intensiv mit der Zukunft der Arbeitswelt im Jahr 2050 auseinandersetzte. Dabei analysierte ich verschiedene Megatrends und stellte mir die Frage, wie sich die Innenarchitektur weiterentwickeln muss, um sowohl die physischen als auch die psychischen Bedürfnisse der Menschen bestmöglich zu unterstützen. Besonders fasziniert hat mich der Gedanke, dass uns unsere Umgebung nicht nur passiv beeinflusst, sondern aktiv zu unserem Wohlbefinden beitragen kann. Ein entscheidender Impuls für meine Arbeit war die Erkenntnis, dass viele Innenräume heute nicht für die Menschen, die sie nutzen, gemacht sind. Gerade in Arbeitsumgebungen und Gesundheitseinrichtungen wird oft nur auf Funktionalität geachtet, während psychophysiologische Aspekte vernachlässigt werden. Ich wollte herausfinden, wie Räume so gestaltet werden können, dass sie aktiv zur Regeneration und Leistungsfähigkeit beitragen. Daraus entwickelte sich meine Vision von intelligenten Räumen, die mit moderner Technologie verknüpft sind und individuell auf die Bedürfnisse der Nutzer eingehen. Ich stelle mir Räume vor, die über Sensoren erkennen, ob eine Person gestresst oder entspannt ist, und daraufhin Faktoren wie Licht, Duft und Raumklima automatisch anpassen, um ein ideales Umfeld für Konzentration oder Entspannung zu schaffen. Diese Idee verbindet Innenarchitektur mit Psychophysiologie und führt zu einer völlig neuen Betrachtungsweise von Raumgestaltung, die über rein ästhetische Aspekte hinausgeht.

Was verstehen Sie unter Healing Architecture und warum ist dieses Konzept gerade im Gesundheitswesen so wichtig?

Healing Architecture bedeutet für mich, Räume so zu gestalten, dass sie die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen fördern. Im Krankenhausbereich wurde in der Vergangenheit zu wenig auf psychophysiologische Bedürfnisse geachtet. Viele Klinikgebäude sind funktional, aber wenig einladend. Dabei gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass die Umgebung einen erheblichen Einfluss auf den Genesungsprozess hat. So hat Roger Ulrich 1984 in einer Studie nachgewiesen, dass Patienten, die ins Grüne blicken, schneller genesen und weniger Schmerzmittel benötigen als Patienten, die auf eine Wand blicken.

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Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es über die Wirkung von Healing Architecture?

Neben der Studie von Ulrich gibt es auch aktuelle Untersuchungen. Ein besonders interessantes Beispiel stammt von Prof. Dr. Büther, der in einer Studie am Universitätsklinikum Wuppertal den Einfluss von Healing Architecture auf Patienten und Klinikpersonal untersuchte. Hier wurde ein Patientenzimmer umgestaltet – mit biodynamischem Licht, einer verbesserten Raumstruktur und einem beruhigenden Farbkonzept. Das Ergebnis war beeindruckend: Die Fehlzeiten des Klinikpersonals sanken um 35 %, die Patienten genasen schneller und mussten weniger Neuroleptika, Medikamente, die zur Beruhigung bei starker Unruhe oder Aggression verwendet werden, einnehmen. Ein Beweis dafür, dass eine durchdachte Raumgestaltung nicht nur den Patienten, sondern auch den Mitarbeitern zugutekommt.

Wie lässt sich das Konzept der Healing Architecture auf die Arbeitswelt übertragen?

Healing Architecture kann auch in der Arbeitswelt eine wichtige Rolle spielen, indem sie ein Umfeld schafft, das Produktivität und Wohlbefinden fördert. Ein wesentlicher Bestandteil ist biophiles Design, das natürliche Elemente wie Tageslicht, Pflanzen und organische Materialien in die Arbeitsräume integriert. Diese Faktoren verbessern nicht nur die Luftqualität, sondern wirken sich nachweislich positiv auf die Stimmung und die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Ein weiteres zentrales Element ist die biodynamische Beleuchtung, die sich dem natürlichen Tagesverlauf anpasst. Morgens fördert kühles Licht Wachheit und Konzentration, während wärmeres Licht am Nachmittag und Abend zur Entspannung beiträgt. So kann der natürliche menschliche Biorhythmus unterstützt und Ermüdungserscheinungen vorgebeugt werden. Akustik und Raumstruktur spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. In vielen Open-Space-Büros sind die Mitarbeiter dauerhaft einem hohen Geräuschpegel ausgesetzt, der zu Stress und Konzentrationsproblemen führen kann. Mit flexiblen Raumkonzepten, akustisch wirksamen Materialien und Zonen für konzentriertes Arbeiten oder Erholung können diese Belastungen reduziert werden. So entstehen Büroumgebungen, die nicht nur funktional, sondern auch gesundheitsfördernd sind.

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Welche Rolle spielt die Psychophysiologie bei der Raumgestaltung?

Die Psychophysiologie erforscht die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Unsere Sinne arbeiten rund um die Uhr und nehmen unbewusst Eindrücke aus unserer Umgebung auf. Ein gutes Beispiel ist der Krankenhausgeruch: Viele Menschen empfinden ihn als unangenehm, was den Stresspegel erhöhen kann. Natürliche Düfte hingegen können beruhigend wirken. Auch Materialien beeinflussen unser Wohlbefinden: Wer auf einem kalten, harten Stuhl sitzt, nimmt sein Gegenüber oft als weniger einfühlsam wahr. Diese Prinzipien lassen sich auch auf moderne Büroarbeitsplätze übertragen. Lärm, künstliches Licht und schlechte Luft können Stress auslösen und die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen. Würden Büros verstärkt mit natürlichem Licht, angenehmer Akustik und haptisch ansprechenden Materialien gestaltet, könnte eine Umgebung entstehen, die nicht nur leistungsfördernd, sondern auch gesundheitsfördernd ist. Flexible Raumlösungen, die sowohl Rückzugsmöglichkeiten als auch offene Kommunikationszonen bieten, sind ebenfalls wichtige Elemente, um das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu unterstützen.

Ist Healing Architecture ein Employer-Branding-Faktor?

Auf jeden Fall! Die Gestaltung von Arbeitsräumen hat einen erheblichen Einfluss darauf, wie attraktiv ein Unternehmen für bestehende und potenzielle Mitarbeiter ist. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels wird die Qualität des Arbeitsplatzes immer wichtiger. Der Mensch verbringt einen Großteil seines Tages in Innenräumen – insbesondere im Büro. Eine Umgebung, die Gesundheit, Wohlbefinden und Produktivität fördert, kann daher ein entscheidender Faktor bei der Wahl des Arbeitgebers sein.

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Wie sehen Sie die Zukunft der Healing Architecture und welche Bedeutung wird sie langfristig in der Architektur haben?

Meiner Meinung nach ist Healing Architecture kein kurzfristiger Trend, sondern eine grundlegende Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren weiter etablieren wird. Angesichts des Fachkräftemangels, steigender Stressbelastungen und neuer Anforderungen an Büro- und Gesundheitsräume wird es für Unternehmen und Institutionen immer wichtiger, Räume so zu gestalten, dass sie das Wohlbefinden der Menschen aktiv unterstützen. Besonders spannend ist dabei die Weiterentwicklung durch digitale Technologien. Ich kann mir gut vorstellen, dass KI-gestützte Raumkonzepte eine immer größere Rolle spielen werden – etwa durch intelligente Sensorik, die sich in Echtzeit an die Bedürfnisse der Nutzer anpasst. Beispielsweise könnte ein Büro automatisch die Lichtverhältnisse, die Temperatur oder die Akustik optimieren, je nachdem, ob jemand konzentriert arbeiten oder kreativ brainstormen möchte. Im Gesundheitsbereich könnten intelligente Systeme Heilungsprozesse gezielt unterstützen, indem sie eine Umgebung schaffen, die Stress reduziert und Erholung fördert. Neben den technologischen Aspekten wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend sein. Nur wenn Architekten, Innenarchitekten, Psychologen und Gesundheitswissenschaftler gemeinsam an ganzheitlichen Konzepten arbeiten, kann Healing Architecture ihr volles Potenzial entfalten. Letztlich geht es darum, Räume nicht nur als funktionale Hülle, sondern als aktive Mitgestalter unseres Wohlbefindens zu begreifen. Ich hoffe, dass sich dieser Ansatz weiter durchsetzt und in Zukunft zum Standard in der Architektur wird – denn gesunde und inspirierende Räume sollten kein Luxus, sondern eine Selbstverständlichkeit sein.

Frau Grigo, vielen Dank für das Gespräch.

Charleen Grigo ist Gründerin des Office of Healing Architecture und Expertin für innovative Gesundheitsarchitektur. Als Innenarchitektin (bdia AKNW) und Vorsitzende des bdia NRW beschäftigt sie sich mit Healing Architecture, Psychophysiologie und New Work. Ihr Fokus liegt auf der Planung von gesundheitsfördernden Innenräumen – von Empfangsbereichen über Arbeitswelten und Operationssälen bis hin zu Patientenzimmern. Ihr evidenzbasierter und nachhaltiger Ansatz stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Raumgestaltung. Als Keynote-Speakerin und Impulsgeberin teilt sie ihr Wissen und inspiriert dazu, Räume gesundheitsfördernder zu gestalten. Weitere Informationen: https://www.o‑ha.co/.

Foto: Nockel Ngoy