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RASUM-Praxisprojekt zur Material-Compliance in der Büromöbelindustrie: Interview mit Prof. Dr. Martin Führ

Nachhaltigkeit

Prof. Dr. Martin Führ. © Hochschule Darmstadt/Christian Heyse
IBA Redaktionsteam IBA Redaktionsteam ·
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Wie lassen sich komplexe Nachhaltigkeitsanforderungen in der Praxis umsetzen? Mit dieser Frage beschäftigte sich ein interdisziplinäres Team des Masterstudiengangs RASUM der Hochschule Darmstadt im Praxisprojekt „Risikoabschätzung und Nachhaltigkeitsmanagement“. In enger Zusammenarbeit mit vier Unternehmen der Büromöbelindustrie entwickelten die Studierenden praxisnahe Tools für mehr Material-Compliance, ein effektiveres Chemikalienmanagement und transparentere Produktaussagen. Im Interview spricht Prof. Dr. Martin Führ, Initiator des Projekts, über die Hintergründe, Ergebnisse und Perspektiven.

Herr Dr. Führ, das jüngste RASUM-Praxisprojekt mit Unternehmen aus der Büromöbelbranche ist abgeschlossen. Was war das Ziel dieses Projekts?

Ziel war es, Studierende des Masterstudiengangs Risk Assessment and Sustainability Management (RASUM) in ein reales Unternehmensumfeld einzubinden. Gemeinsam mit vier Unternehmen haben die Studierenden an konkreten Fragestellungen gearbeitet, die sich aus den steigenden Anforderungen an Material-Compliance, Chemikalienmanagement und umweltbezogene Produktaussagen ergeben, insbesondere im Kontext des europäischen Green Deals und des digitalen Produktpasses. 

Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Praxispartnern?

Sehr kooperativ und auf Augenhöhe. Die Unternehmen – darunter REISS Büromöbel, SMV Sitz- & Objektmöbel, Hund Möbelwerke sowie das dänische Start-up STYKKA – brachten ihre eigenen Fragestellungen und Probleme ein, insbesondere rund um Nachhaltigkeitsanforderungen und regulatorische Veränderungen. In Phase eins des Projekts entwickelten unsere Studierenden daraufhin konkrete Angebotskonzepte, die sowohl technische als auch organisatorische Lösungen beinhalteten. In einem weiteren Schritt entschieden sich die Unternehmen für eines dieser Konzepte oder kombinierten mehrere zu einem maßgeschneiderten Arbeitsauftrag. So entstand eine interdisziplinäre Projektarbeit, die sich eng an den realen Anforderungen der Unternehmen orientierte, mit regelmäßigem Austausch, Feedbackschleifen und einem klaren Fokus auf umsetzbare Ergebnisse.

Welche konkreten Ergebnisse wurden erarbeitet?

Ein zentrales Ergebnis ist das Produkt- und Material-Datensystem, ein Excel-basiertes Tool zur systematischen Erfassung und Auswertung von Produktinformationen. Es strukturiert Daten auf mehreren Ebenen: von der Produktgruppe über Einzelkomponenten bis hin zu spezifischen Materialien und ihrer chemischen Zusammensetzung. Dadurch lassen sich Materialien schnell und automatisiert auf Konformität mit relevanten Regelwerken wie REACH, RoHS oder der POP-Verordnung prüfen. Zusätzlich enthält das Tool ein Frühwarnsystem in Form der sogenannten SIN-Liste, die besonders besorgniserregende Stoffe identifiziert, bevor sie gesetzlich reguliert werden. Ergänzend wurde eine praxisorientierte Compliance-Checkliste mit interaktiven Funktionen entwickelt. Mit dieser können Unternehmen ihre Prozesse systematisch auf regulatorische Lücken überprüfen und priorisierte Handlungsbedarfe ableiten.

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Das klingt nach einem großen Pensum. War das alles in einem Semester zu schaffen?

Nein, das Projekt war bewusst über zwei Semester angelegt und in zwei klar getrennte Phasen gegliedert. In der ersten Phase standen die Bedarfsanalyse und die Angebotserstellung im Mittelpunkt: Die Unternehmen präsentierten ihre Strukturen, Probleme und Nachhaltigkeitsziele, anschließend erarbeiteten die Studierenden darauf aufbauend fundierte Lösungsvorschläge. In der zweiten Phase ging es dann um die praktische Umsetzung des ausgewählten Angebots mit allen Schwierigkeiten, wie sie auch in echten Projektkontexten auftreten. Dass in diesem vergleichsweise kurzen Zeitraum ein funktionales und vielseitig einsetzbares Tool entstanden ist, zeugt von der hohen Motivation und der methodischen Kompetenz der Projektgruppe. Natürlich ist das Ergebnis kein fertiges Industrieprodukt – dafür bräuchte es mehr Zeit und Ressourcen. Es ist jedoch ein tragfähiger Prototyp und eine gute Basis für den Praxiseinsatz und die Weiterentwicklung.

Wie wurde das Tool von den Unternehmen aufgenommen?

Mit großem Interesse und dem ausdrücklichen Wunsch, es in die Praxis umzusetzen. So wird die SMV Sitz- & Objektmöbel GmbH das Tool nicht nur intern pilotieren, sondern auch eine Masterarbeit begleiten, um es gezielt an betriebliche Anforderungen anzupassen. Auch die anderen Projektpartner zeigten sich beeindruckt von der Funktionalität des Tools, insbesondere von der automatisierten Stoffprüfung und der durchdachten Datenstruktur. In den Diskussionen wurde aber gleichzeitig deutlich, dass die Umsetzung regulatorischer Anforderungen häufig an einem zentralen Punkt scheitert: der mangelnden Transparenz in der Lieferkette. Ohne belastbare Informationen zu Vorprodukten und Materialien stoßen selbst die besten Systeme an ihre Grenzen. Genau hier setzt das Projekt an. Mit ersten Ideen für digitale Lieferantenabfragen und einer schrittweisen Integration in bestehende Prozesse.

Was ist damit genau gemeint?

Viele Unternehmen stehen vor dem Problem, dass sie die genaue Zusammensetzung ihrer Produkte oft nicht kennen, insbesondere dann, wenn sie auf vorgefertigte Komponenten oder Materialien ihrer Zulieferer angewiesen sind. Diese Intransparenz macht es extrem schwierig, regulatorische Anforderungen wie REACH oder den künftigen digitalen Produktpass rechtskonform zu erfüllen. Für eine verlässliche Material-Compliance sind Informationen aus der gesamten Lieferkette erforderlich – vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt. Genau hier setzt das entwickelte Tool an. Es schafft die nötige Struktur, um solche Daten zu erfassen und auszuwerten. Doch ohne die aktive Mitwirkung der Zulieferer stößt es an Grenzen. Deshalb wurde im Projekt auch die Idee eines digitalen Lieferantenfragebogens diskutiert: ein standardisiertes Modul, das sich in der Lieferkette weiterreichen lässt und die relevanten Informationen automatisiert in das System einpflegt. Noch befindet sich das Konzept in der Entwurfsphase, aber es zeigt bereits deutlich, in welche Richtung sich nachhaltiges Lieferkettenmanagement entwickeln muss.

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Welche Rolle spielt der Masterstudiengang RASUM dabei?

RASUM ist genau auf diese Schnittstellenprobleme vorbereitet. Es vermittelt Studierenden nicht nur naturwissenschaftlich-technische Grundlagen, etwa zu Stoffeigenschaften oder Risikobewertungen, sondern auch juristisches Know-how zur Umweltregulierung sowie Managementkompetenzen für Organisations- und Transformationsprozesse. Das Praxisprojekt ist ein ideales Beispiel dafür, wie dieses interdisziplinäre und transdisziplinäre Wissen wirksam wird – nicht abstrakt im Seminar, sondern ganz konkret im Austausch mit Unternehmen. Unsere Studierenden erleben hautnah, wie schwierig, aber auch gestaltbar Nachhaltigkeit in der Praxis ist. Sie lernen, komplexe Zusammenhänge zu analysieren, mit Stakeholdern zu kommunizieren und praktikable Lösungen zu entwickeln. Das sind Kompetenzen, die im Berufsfeld zunehmend gefragt sind. RASUM macht Nachhaltigkeit konkret.

Ist das Projekt damit abgeschlossen oder geht es weiter?

Die erste Projektphase ist abgeschlossen, es gibt jedoch klare Weiterentwicklungspläne. Denkbar sind beispielsweise Schnittstellen zu ERP-Systemen, Erweiterungen um internationale Regularien oder sogar KI-gestützte Auswertungen zur automatisierten Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten. Auch eine Überführung des Tools in professionelle Datenbanksysteme ist geplant.

Was bedeutet Ihnen dieses Projekt persönlich?

Es ist ein Paradebeispiel für die gelungene Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Studierenden und Wirtschaft. Es zeigt, dass Wandel möglich ist, wenn Menschen mit Kompetenz, Mut und Gestaltungswillen zusammenkommen. Genau das versuchen wir mit RASUM zu fördern: nachhaltige Entwicklung als konkreten Gestaltungsauftrag, nicht als abstraktes Ziel.

Herr Dr. Führ, vielen Dank für das Gespräch.

Über RASUM
Der interdisziplinäre Masterstudiengang Risk Assessment and Sustainability Management (RASUM) an der Hochschule Darmstadt hat das Ziel, Nachhaltigkeit und Risikomanagement systematisch in unternehmerische Entscheidungsprozesse zu integrieren. Ein zentrales Element des Studiums sind praxisnahe Projekte mit Partnern aus Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft. So entstehen konkrete, anwendungsorientierte Lösungen für aktuelle Anforderungen im Nachhaltigkeitskontext. Weitere Informationen finden Sie unter: https://rasum.h‑da.de/.

Prof. Dr. Martin Führ hält die Professur für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsvergleichung an der Hochschule Darmstadt. Er leitet den dortigen interdisziplinären Masterstudiengang Risk Assessment and Sustainability Management (RASUM) sowie die Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse (sofia). Seine fachlichen Schwerpunkte liegen im Umwelt‑, Stoff- und Produktrecht sowie im Recht der Nachhaltigen Entwicklung. Zuvor leitete er den Bereich Recht am Öko-Institut e. V. und war Mitglied im Management Board der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA). Martin Führ ist Herausgeber bedeutender juristischer Standardwerke, so zum Bundes-Immissionsschutzgesetz und zur REACH-Verordnung, und wurde unter anderem vom Deutschen Bundestag als Sachverständiger in den Untersuchungsausschuss zum Diesel-Skandal berufen. Weitere Informationen finden Sie unter: https://fbgw.h‑da.de/fachbereich/personen/professorinnen/prof-dr-martin-fuehr

Titelbild: © Hochschule Darmstadt/Christian Heyse