Am 18.07.2024 ist die EU-Ökodesign-Verordnung 2024/1781 (Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR); ABl. EU 2024 L 2024/1781) in Kraft getreten. Die neue ESPR ersetzt die bisherige Ökodesign-Richtlinie 2009/125/EG und erweitert den Anwendungsbereich für Ökodesign-Anforderungen deutlich – ganz im Sinne des Aktionsplans der Kommission zur Kreislaufwirtschaft vom 11.03.2020. Die IBA Forum Redaktion sprach mit dem Umweltrechtsexperten Prof. Dr. Martin Führ von der Hochschule Darmstadt über aktuelle und zukünftige Materialanforderungen, den Digitalen Produktpass und Chancen für neue serviceorientierte Geschäftsmodelle in der Europäischen Union.
Herr Dr. Führ, was ist unter Ökodesign zu verstehen?
Unter Ökodesign versteht die Verordnung „die Einbeziehung von Erwägungen der ökologischen Nachhaltigkeit in die Merkmale eines Produkts und die Prozesse, die entlang der gesamten Wertschöpfungskette des Produkts stattfinden“ (Art. 2 Abs. 1 Nr. 6 ESPR). Die ESPR und die auf ihrer Grundlage erlassenen Ökodesign-Anforderungen haben also den gesamten Lebenszyklus eines Produkts – von der Herstellung bis zur Entsorgung – im Blick.
Wie unterstützt das neue Ökodesign-Regelwerk (ESPR) den Übergang zu nachhaltigeren Produkten und welche langfristigen Auswirkungen erwarten Sie für den europäischen Markt?
Die Durchführungsverordnungen der Europäischen Kommission schaffen für alle betroffenen Produktgruppen einheitliche Anforderungen. Produkte darf man nur noch vermarkten, wenn sie den Vorgaben entsprechen. Jedes Möbelstück muss zudem mit einem Digitalen Produktpass ausgestattet sein. Das Regelwerk schafft also ein level playing field.
Möbel stehen ganz oben auf der Prioritätenliste der Ökodesign-Durchführungsbestimmungen. Welche speziellen Herausforderungen sehen Sie in der Implementierung von Material-Compliance-Vorgaben für diese Produktgruppe?
Möbel müssen in Zukunft den in Art. 5 Abs. 1 der ESPR formulierten R‑Strategien entsprechen:
(a) Durability
(b) Reliability
(c) Reusability
(d) Upgradability
(e) Repairability
(f) The possibility of maintenance and refurbishment
(g) The presence of substances of concern
(h) Energy use and energy efficiency
(i) Water use and water efficiency
(j) Resource use and resource efficiency
(k) Recycled content
(l) The possibility of remanufacturing
(m) Recyclability
(n) The possibility of the recovery of materials
(o) Environmental impacts, including carbon footprint and environmental footprint
Das ist nicht gerade wenig. Es kommt also darauf an, Methoden zu entwickeln, um diese Leistungsanforderungen zu konkretisieren, sie im Digitalen Produktpass zu hinterlegen und so eine Markt-Transparenz zu ermöglichen.
Welche Rolle spielt der Digitale Produktpass und welche Herausforderungen stellen sich bei der Standardisierung dieser Daten, um Vertrauenswürdigkeit und Aktualität zu gewährleisten?
Der Digitale Produktpass (DPP) ist das zentrale Kommunikationsinstrument in der Lieferkette hin zum Endprodukt. In ihm sind die Daten zu den R‑Strategien zu hinterlegen. Entscheidend ist, dass dort auch die Bauteile und ihre Materialien hinterlegt sind. Auf dieser Grundlage kann sich dann die Entwicklung und Gestaltung der Produkte an den R‑Kriterien ausrichten. Die Daten der Vorlieferanten im DPP sind also Voraussetzung für Innovationen. Dafür müssen sich die Produktentwickler darauf verlassen können, dass die Daten vollständig und zuverlässig sind. Außerdem ist zu gewährleisten, dass der Lieferant bei jeder Änderung – etwa einem Wechsel der Vor-Vorlieferanten mit verändertem CO2-Fußabdruck oder veränderter Materialzusammensetzung – den DPP aktualisiert. Man benötigt also ein Governance-Regelwerk, dass dazu Vorgaben enthält und auch Mechanismen beinhaltet, diese durchzusetzen. All dies muss zudem in die privatrechtlichen Verträge mit den Lieferanten integriert werden.
Ein wichtiger Aspekt der ESPR ist der Umgang mit Chemikalien in Produkten. Welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus für die Industrie, insbesondere im Hinblick auf REACH und RohS?
Die Anforderungen aus REACH und RohS sind als solche nicht neu. Nicht nur im Möbelsektor ist aber nicht allen klar, was das in der praktischen Umsetzung konkret bedeutet. Mit dem DPP gibt es aber jetzt die Option, in standardisierter Form auch die Material-Compliance zu gewährleisten. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist die Rückverfolgbarkeit (Traceability) aller in den Bauteilen enthaltenen Materialien. Das fordert übrigens bereits seit 2015 auch die ISO 9.000 in Nr. 8.5.2. Auch das ist also nicht neu.
Dabei wäre es ein schwerer Fehler, sich auf die bereits unter REACH und RohS regulierten Stoffe zu beschränken. Ein solcher Ansatz würde dazu führen, dass man bei jeder Änderung den gesamten Kommunikationsprozess in der Lieferkette neu aufrollen müsste. Änderungen unter REACH sind permanent zu erwarten: Jeweils im Januar und Juli veröffentlicht die Europäische Chemikalienagentur auf ihrer Website neue Stoffe (SVHC). Damit greifen dann sofort die aktiven Berichtspflichten aus Art. 33 Abs. 1 REACH. Hinzu kommen permanent neue Verbote und Grenzwerte im Anhang XVII zu REACH. Ähnliches gilt für elektrische und elektronische Bauteile unter RohS. Und auch das Ökodesign-Regelwerk wird hierzu Leistungs- und Informationsanforderungen enthalten, wie sich aus Anhang I (f) ergibt:
„Verwendung von – insbesondere besorgniserregenden – Stoffen als solche, als Bestandteil von Stoffen oder in Gemischen bei der Herstellung von Produkten oder deren Vorhandensein in Produkten, auch wenn diese Produkte zu Abfall werden, sowie Auswirkungen dieser Stoffe auf die Gesundheit des Menschen und die Umwelt […]“
Dabei geht es sowohl um die in der Produktion eingesetzten Stoffe als auch um solche, die in den Bauteilen und damit im Endprodukt noch enthalten sind.
Erstmalig werden nahezu alle physischen Produkte in die ESPR einbezogen. In welchen Branchen sehen Sie das größte Potenzial, durch die Einhaltung von Ökodesign-Anforderungen einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten?
Der größte Beitrag zum Klimaschutz liegt darin, die Lebensdauer der Produkte und ihrer Bauteile zu verlängern. Denn dann muss man aus dem Boden oder dem Wald keine neuen Rohmaterialien entnehmen. Man spart also alle damit verbundenen Umwelt- und Klimawirkungen. Dementsprechend zielen die meisten der R‑Strategien auch darauf ab, die Nutzungsdauer der Produkte zu erhöhen. In zweiter Linie geht es darum, die Herstellungsprozesse an den Kriterien des Ressourcenschutzes und der Schadstoffarmut auszurichten. Erst dann kommt das Recycling ins Spiel – im Anforderungskatalog aus Art. 5 ESPR als Buchstabe (m). Hochwertiges Recycling setzt aber wiederum voraus, dass man keine problematischen Stoffe im Kreislauf hält. Die Traceability der stofflichen Zusammensetzung ist auch dafür der Schlüssel.
Unter den Produktgruppen, die das größte Potenzial haben, zu den Zielen der ESPR beizutragen, sehe ich Möbel sogar an erster Stelle. Denn einerseits handelt es sich um einen enormen Stoffstrom: Etwa 10 Millionen Tonnen Möbel landen jedes Jahr in der EU auf dem Müll. Zugleich besteht hier ein enormes Potenzial, Entlastungspotenziale zugunsten von Umwelt- und Klimaschutz, aber auch bei möglichen gesundheitlichen Wirkungen zu erzielen. Immerhin befindet sich der allergrößte Teil der Möbel in geschlossenen Räumen. Möbel stehen daher nicht zufällig ganz oben auf der Liste der Produktgruppen, für die die Europäische Kommission Durchführungsverordnungen vorbereitet.
In Ihrem ORGATEC-Vortrag ging es auch um die Möglichkeit, durch die Einhaltung von Ökodesign-Vorschriften neue, serviceorientierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Können Sie Beispiele nennen, wie Unternehmen diese Chancen konkret nutzen können?
Das neue Regelwerk schafft ein verändertes Marktumfeld. Je konkreter die R‑Strategien in den Leistungskriterien für Produkte und den zugehörigen Informationsanforderungen verankert sind, desto größer sind die Marktchancen für Geschäftsmodelle, die etwa auf die Wartung, Reparier- und Nachrüstbarkeit sowie Weiterverwendung ganzer Möbel oder einzelner Bauteile abzielen. Ein digitaler Zwilling für jedes einzelne Möbelstück und der wichtigsten Bauteile bietet die Möglichkeit, direkt aus einer App das passende Ersatzteil zu bestellen oder Nachrüstoptionen zu sehen. Erste Unternehmen, etwa aus Dänemark, bieten dies bereits an: Man scannt den QR-Code bzw. liest die RFID-Kennung aus und kann in einem dreidimensionalen Modell das Möbelstück betrachten und gelangt direkt zu den Bestellmöglichkeiten.
Hersteller von Bauteilen haben so die Chance, direkt an den Endkunden zu liefern. Unternehmen, die gebrauchte Möbel aufarbeiten, kommen ebenfalls leichter an die passenden Bauteile, weil alle Maße und sonstigen Spezifikationen hinterlegt sind. Über den DPP und seine Integration in die App lassen sich dann etwa auch andere Farben der Fronten oder technische Lösungen, die bei der Erstvermarktung noch nicht verfügbar waren, identifizieren und per Klick ordern.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf den Möbelsektor insgesamt ein?
In der Gesamtschau erhöht das Ökodesign-Regelwerk die Qualitätsanforderungen an die Produkte signifikant. Im Zusammenspiel mit den Transparenz-Anforderungen im DPP ändert sich das Marktumfeld ganz erheblich. Das neue Regelwerk vollzieht eine Abkehr von der Strategie, immer mehr Möbel immer kostengünstiger (aber mit erhöhtem Ressourcenzugriff und Freisetzung von Klimagasen) auf den Markt zu bringen. Stattdessen begünstigt es Geschäftsmodelle entlang der R‑Strategien und eine darauf ausgerichtete Gestaltung der Produkte, verknüpft mit Service-Angeboten.
Viele der die Lebensdauer verlängernden R‑Strategien verlangen zudem Angebote in der jeweiligen Region. Schon aus logistischen Gründen macht es keinen Sinn, die Produkte über große Distanzen zu transportieren. Die neuen Geschäftsmodelle ergeben sich also dort, wo sich die Möbel befinden.
Alle Unternehmen, die sich bei Qualität und Transparenz anspruchsvolle Ziele setzen, haben damit einen Marktvorteil. Gefragt ist also vorausschauendes unternehmerisches Handeln: Schon jetzt sind die internen Prozesse und die Lieferanten-Beziehungen an den absehbaren Vorgaben auszurichten. Die Traceability ist dabei unverzichtbare Voraussetzung und zugleich der zentrale ermöglichende Faktor für alle an den Ökodesign-Anforderungen ausgerichteten Geschäftsmodellen. Hierfür die technischen und organisatorischen Voraussetzungen, vor allem aber die Spielregeln im Sinne eines Governance-Rahmenwerks zu schaffen, ist das Gebot der Stunde.
Herr Dr. Führ, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Martin Führ ist Professor für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsvergleichung an der Hochschule Darmstadt (h_da). Er leitet dort den Master-Studiengang „Risk Assessment and Sustainability Management“ (RASUM) sowie die Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse (sofia) und ist beteiligt u.a. an dem Transfer-Vorhaben „Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne)“. Er promovierte und habilitierte an der Goethe-Universität Frankfurt/Main („Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat“, Berlin 2002). Im Öko-Institut e.V., Freiburg/Darmstadt/Berlin, leitete er viele Jahre den Bereich Recht; von 1993–1997 gehörte er dem Vorstand an. Von 2008 bis 2015 war er als von der Europäischen Kommission ernanntes Mitglied im „Management Board“ der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA, Helsinki). Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zum „Diesel-Skandal“ bestellte ihn förmlich zum Sachverständigen. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Stoff- und Produktrecht sowie im Industrieanlagenrecht und der Umweltverträglichkeitsprüfung. Er ist Herausgeber des Gemeinschaftskommentars zum Bundes-Immissionsschutzgesetz und des Praxishandbuchs REACH. Seine Publikationen umfassen die gesamte Bandbreite des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, aber auch den rechtlichen Rahmenbedingungen einer Nachhaltigen Entwicklung und zur ökonomischen Analyse des Rechts. Weitere Informationen unter: fbgw.h‑da.de.
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