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Fachkräftemangel: Cawa Younosi über Chancen und ungenutztes Potenzial

Work Culture Festival

Cawa Younosi, Work Culture Festival 2024. BIld: IBA
IBA Redaktionsteam IBA Redaktionsteam ·
7 Minuten

Auf dem Work Culture Festival 2024 sprach Cawa Younosi, ehemaliger Personalchef von SAP Deutschland und Geschäftsführer der Charta der Vielfalt, über eines der drängendsten Probleme der deutschen Wirtschaft: den Fachkräftemangel. Sein Vortrag und das anschließende Gespräch mit Michael Trautmann standen unter dem Motto „Die verborgenen Chancen für Menschen, Unternehmen und die Gesellschaft“.

Von Potenzialverschwendung und systematischen Hürden

Cawa Younosi begann mit einer provokanten Feststellung: Deutschland betreibe in großem Stil Potenzialverschwendung – von der Bildung bis zum Arbeitsmarkt. Er zeigte auf, wie eng soziale Herkunft und Bildungschancen zusammenhängen: „Von 100 Kindern, die ins Leben starten, schaffen 74 das Abitur, wenn sie aus einem Akademikerhaushalt kommen. Bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien sind es nur 21.“ Diese Ungleichheit setze sich im Berufsleben fort. Younosi wies darauf hin, dass in Deutschland mehr als 2,5 Millionen Menschen keinen Berufsabschluss haben – mehr als es offene Stellen gibt. Statt diese Menschen durch gezielte Weiterbildung in den Arbeitsmarkt zu integrieren, blieben viele in Niedriglohnjobs stecken. „Das Problem ist nicht nur die Migration oder die Bildungspolitik, sondern unser gesamtes System, das Menschen nach formalen Qualifikationen bewertet, statt auf tatsächliche Fähigkeiten und Potenziale zu setzen“, betonte er. Eine seiner Kernforderungen: eine Ausbildungspflicht für alle, die ausbildungsfähig sind.

Vielfalt als Wirtschaftsfaktor: mehr als ein Imagefaktor

Ein zentrales Thema des Talks war Diversität, die immer noch nicht in ihrer ganzen Tragweite verstanden wird. „Diversität ist kein Buzzword und auch keine reine Imagefrage. Sie ist ein wirtschaftlicher Erfolgsfaktor. Aber stattdessen haben wir es hierzulande geschafft, selbst aus Diversitätsinitiativen Bürokratiemonster zu machen.“ Ein besonders kritischer Punkt sei der geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen. Trotz jahrzehntelanger Initiativen und Quotenregelungen sei das Tempo der Veränderung erschreckend langsam. „Frauen müssen nicht durch unzählige Mentoring-Programme geschleust werden. Wir sollten sie einfach befördern, so wie wir es bei Männern tun“, forderte Younosi. Oft würden bei Frauen alle erdenklichen Qualifikationen geprüft, während bei Männern die Annahme „Er wird schon reinwachsen“ reiche. „Es gibt keinen Grund, Frauen nicht genauso schnell und direkt Verantwortung zu übertragen. Das Problem sind nicht ihre Fähigkeiten, sondern unsere Strukturen.“

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Neue Wege im Recruiting: Potenzial statt Zeugnisse

Ein weiteres Hindernis sieht Younosi im traditionellen Recruiting. Es werde immer noch zu sehr auf Zeugnisse und formale Bildungswege geachtet. „In Deutschland stellen wir Menschen nach formalen Abschlüssen ein, nicht nach ihren tatsächlichen Fähigkeiten. Dabei wissen wir aus der Praxis, dass Menschen mit Potenzial und Lernfähigkeit oft genauso erfolgreich sind wie diejenigen mit perfekten Abschlüssen.“ Gerade in technischen Berufen wie Künstliche Intelligenz oder Data Science seien oft keine fertigen Expertinnen und Experten zu finden, weil es die Studiengänge einfach noch nicht lange genug gebe. Sein Vorschlag: Mehr Mut zum „potenzialorientierten Recruiting“, weg von starren Kriterien und stattdessen gezielt nach Talenten suchen, die sich weiterentwickeln können. „Es ist absurd, dass wir Menschen nach ihrem Potenzial bewerten, wenn sie schon im Unternehmen sind, aber nicht, wenn sie sich bewerben.“ Auch die sogenannten Low Performer seien oft nicht das Problem. Vielmehr gehe es darum, ob die Person an der richtigen Stelle eingesetzt wird und welche Rahmenbedingungen für sie geschaffen werden.

 

Führung in Zeiten des Wandels: Flexibilität statt Dogmen

Auch die Rolle von Führungskräften wurde diskutiert. „Wir tun so, als hätte sich Führung komplett verändert, aber das stimmt nicht“, sagte Younosi. Die Kernaufgabe sei die gleiche geblieben: ein Team zu motivieren, eine Vision zu vermitteln und Menschen zum Erfolg zu führen. Allerdings müssten Führungskräfte heute flexibler agieren, vor allem in hybriden Arbeitsmodellen. Younosi warnte vor einer Rückkehr zu starren Präsenzpflichten in Unternehmen. „Viele CEOs argumentieren, dass Mitarbeiter im Büro produktiver sind. Doch wer Mitarbeiter zwingt, ins Büro zurückzukehren, verliert am Ende oft die besten Leute – weil sie einfach woanders hingehen.“ Stattdessen sollten Unternehmen hybride Arbeitsmodelle etablieren, die sich an den Bedürfnissen der Teams orientieren. Er wies darauf hin, dass Führungskräfte selbst oft wenig Entscheidungsfreiheit hätten. „Viele klagen, dass sie kaum noch Gestaltungsspielraum haben, weil alles durch Vorgaben geregelt ist. Wenn sogar die Entscheidung über Homeoffice oder Büro von oben diktiert wird, kann man sich wirklich fragen, wozu wir dann noch Führungskräfte brauchen.“

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Künstliche Intelligenz: Bedrohung oder Chance?

Auf die Frage von Moderator Michael Trautmann, wie er die Rolle von KI in der Arbeitswelt sehe, reagierte Younosi gelassen: „Die Panik um KI ist übertrieben. Automatisierung ist nichts Neues – sie hat bisher nur vor allem Blue-Collar-Jobs betroffen. Jetzt betrifft sie auch White-Collar-Jobs und plötzlich ist die Nervosität groß.“ Er stellte klar, dass KI vor allem dort sinnvoll sei, wo sie repetitive Tätigkeiten übernehme, die ohnehin niemand gern mache. „Wer will schon den ganzen Tag Rechnungen abgleichen? Wenn KI das für uns erledigt, haben wir mehr Zeit für das, was uns wirklich weiterbringt.“ Gleichzeitig betonte er, dass KI in erster Linie ein Werkzeug und kein Ersatz für menschliche Kreativität, strategisches Denken und zwischenmenschliche Interaktion sei. „KI kann Muster erkennen, Daten analysieren und Vorschläge machen, aber sie kann keine echten Innovationen schaffen oder komplexe zwischenmenschliche Beziehungen managen.“ Younosi argumentierte, dass Unternehmen KI als Chance nutzen sollten, um Mitarbeiter zu entlasten und ihnen mehr Raum für wertschöpfende Tätigkeiten zu geben. „Wenn wir KI klug einsetzen, kann sie uns von unnötigen Routinen befreien. Der Schlüssel liegt darin, Mitarbeiter frühzeitig für den Umgang mit KI zu befähigen – damit sie nicht durch die Technologie ersetzt, sondern durch sie gestärkt werden.“

Ausblick: Vielfalt und Flexibilität als Schlüssel für die Zukunft

Für Younosi können Unternehmen und Gesellschaft nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, das volle Potenzial aller Menschen zu nutzen. „Wir können es uns nicht leisten, Talente durch starre Strukturen, überholte Recruiting-Methoden oder einseitige Arbeitsmodelle zu vergeuden. Wer sich Vielfalt und Flexibilität verweigert, wird auf Dauer nicht wettbewerbsfähig sein.“ Er forderte Unternehmen zu mutigen Entscheidungen auf: „Fördert Vielfalt nicht nur als Marketingkampagne, sondern integriert sie in eure Strukturen. Nutzt Potenziale, statt nur Abschlüsse zu zählen. Und schafft eine Arbeitswelt, die Menschen einbindet statt sie auszugrenzen. Dann werden wir nicht nur den Fachkräftemangel überwinden, sondern auch als Gesellschaft wachsen.“

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Cawa Younosi ist ein erfahrener HR-Experte und ehemaliger Personalchef von SAP Deutschland. Er zählt zu den einflussreichsten Stimmen im Bereich Human Resources und ist bekannt für seinen praxisnahen und innovativen Ansatz in der Arbeitswelt. Geboren 1975, kam er als Flüchtling nach Deutschland und begann seine Karriere als Arbeitsrechtler, bevor er in die Wirtschaft wechselte. Bei SAP leitete er bis Oktober 2023 die globale HR-Organisation und setzte sich für eine vertrauensbasierte Unternehmenskultur ein. Unter seiner Führung wurden neue Arbeitsmodelle eingeführt, darunter flexible Führungsstrukturen und eine stärkere Mitarbeiterorientierung. Darüber hinaus engagiert er sich für die Förderung von Diversität und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Als Geschäftsführer der Charta der Vielfalt setzt sich Younosi weiterhin für eine moderne Arbeitswelt ein, die stärker auf individuelle Bedürfnisse eingeht und traditionelle Strukturen hinterfragt. Sein Credo: Unternehmen müssen sich auf ihre Beschäftigten einstellen – nicht umgekehrt.

Titelbild: © IBA