Mit Schwester Ursula Hertewich und Dr. Peter Tauber trafen im Rahmen des Work Culture Festivals 2024 zwei Persönlichkeiten aufeinander, deren biografische Wendepunkte exemplarisch für das Thema Transformation stehen. Moderiert von Wolfram Sauer ging es um die Frage, wie persönliche Brüche, berufliche Neuorientierung und Wertefragen mit den Herausforderungen einer sich wandelnden Arbeitswelt zusammenhängen und welche Impulse sich daraus für Organisationen ableiten lassen.
Karrieren mit Sinn: Arbeit als Ausdruck von Identität
Beide Gesprächspartner blicken auf Lebensläufe zurück, die zunächst von klaren beruflichen Zielvorstellungen geprägt waren. Während Ursula Hertewich aus einer Apothekerfamilie stammt, Pharmazie studierte, promovierte und zunächst in Forschung und Lehre tätig war, durchlief Peter Tauber eine politische Karriere bis hin zum Generalsekretär der CDU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Beide entschieden sich jedoch im Laufe ihrer Karriere für grundlegende Kurswechsel: Hertewich trat in einen katholischen Orden ein, Tauber zog sich nach einer gesundheitlichen Krise aus der aktiven Politik zurück und engagiert sich seitdem in neuen beruflichen Zusammenhängen.
Diese biografischen Neuorientierungen stehen für ein wachsendes Bedürfnis, Arbeit nicht nur funktional, sondern auch sinnstiftend zu begreifen. Die Frage, welche Rolle der eigene Beruf für die persönliche Identität spielt und ob er zur Selbstverwirklichung beiträgt, gewinnt an Bedeutung; Erwerbsbiografien verlaufen heute seltener linear und genau darin liegt eine Stärke, die Teams und Organisationen neue Impulse geben. Dabei gilt: Brüche im Lebenslauf sind kein Makel, sondern können sowohl individuell als auch für Unternehmen ein Gewinn sein. Menschen, die bewusst vertraute Pfade verlassen haben, bringen oft ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, Resilienz und Gestaltungskompetenz mit. Sie haben gelernt, mit Unsicherheit umzugehen, Perspektiven zu wechseln und Veränderungen aktiv zu gestalten, Fähigkeiten, die in einer sich wandelnden Arbeitswelt zunehmend gefragt sind.
Verantwortung braucht gewisse Strukturen
Ein zentrales Thema des Gesprächs war auch die Frage, wie Verantwortung in Organisationen gestaltet werden kann und unter welchen Bedingungen sie langfristig tragfähig bleibt. Peter Tauber schilderte offen, wie ihn die Anforderungen seines politischen Amtes, der permanente Druck und die ständige Verfügbarkeit in eine gesundheitliche Krise geführt haben. Erst dieser erzwungene Rückzug schaffte Raum für eine echte Neuorientierung.
Seine Erfahrungen machten deutlich: Verantwortung darf nicht als heroischer Einzelkampf verstanden werden, sondern muss eingebettet sein in Strukturen, die Vertrauen fördern, Handlungsspielräume eröffnen und Rückhalt bieten. Es braucht Arbeitsumgebungen, die nicht nur Aufgaben delegieren, sondern auch Ressourcen zur Verfügung stellen, Reflexion ermöglichen und es möglich machen, Schwäche zu zeigen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Verantwortung kann nur dann wirksam wahrgenommen werden, wenn sie nicht isoliert, sondern als Beziehungsgeschehen zwischen Menschen, Rollen und institutionellen Rahmenbedingungen verstanden wird. Führung in diesem Verständnis bedeutet nicht nur Kontrolle, sondern auch Fürsorge, Transparenz und das aktive Schaffen eines sicheren Raums für Lernen und Entwicklung. Organisationen, die diese Kultur fördern, stärken nicht nur die Resilienz ihrer Mitarbeiter, sondern schaffen auch die Grundlage für nachhaltige Wirksamkeit, selbst unter anspruchsvollen Bedingungen. Und so entsteht dann ein Umfeld, in dem Menschen langfristig wirksam und gesund arbeiten können.
Führung neu denken: Zwischen Vertrauen und Auftrag
Die Diskussion weitete sich auf zentrale Fragen der Führungskultur aus, insbesondere auf die Frage, wie Verantwortung wirksam geteilt und wahrgenommen werden kann. Peter Tauber griff das aus der Bundeswehr stammende Prinzip der Auftragstaktik auf: Ein Modell, bei dem nicht die detaillierte Kontrolle im Vordergrund steht, sondern die präzise Vermittlung eines übergeordneten Ziels. Der Weg zur Umsetzung wird dem jeweiligen Team überlassen, im Vertrauen darauf, dass die Beteiligten situationsgerecht, eigenverantwortlich und kompetent handeln. Der entscheidende Erfolgsfaktor ist dabei weniger das Ausmaß der Kontrolle, sondern die Klarheit über Sinn und Ziel sowie die Bereitschaft, Verantwortung tatsächlich abzugeben. Ursula Hertewich stellte dem ein Modell aus der klösterlichen Praxis gegenüber: Auch dort gebe es Hierarchien, aber zunehmend werde eine kollektive Beteiligung an der Zielentwicklung angestrebt. Entscheidungsprozesse verlaufen dialogisch, oft unter Einbeziehung vielfältiger Perspektiven innerhalb der Gemeinschaft. In ihrer Gemeinschaft sei es mittlerweile selbstverständlich, dass Führung eher moderierend als anweisend wirke, ein Wandel, der nicht immer reibungslos verlaufe, aber neue Potenziale freisetze: für Kreativität, gegenseitiges Lernen und geteilte Verantwortung.
Beide Perspektiven machen deutlich, dass wirksame Führung heute weniger über formale Autorität als über Vertrauen, Orientierung und Beziehungsgestaltung funktioniert. Wer Mitarbeitern Verantwortung überträgt, muss gleichzeitig bereit sein, ihnen die notwendigen Ressourcen, Entscheidungsfreiräume und auch Rückendeckung zu geben. Der gemeinsame Nenner: Führung wird als Rahmen verstanden, in dem andere wirksam werden können. Vertrauen wird nicht vorausgesetzt, sondern aktiv aufgebaut: durch Transparenz, klare Kommunikation und die Anerkennung individueller Stärken im Team.
Zum Abschluss wurde über gesellschaftlichen Zusammenhalt gesprochen. Hertewich betonte, wie wichtig es sei, Verschiedenheit nicht als Bedrohung, sondern als Ressource zu begreifen. In klösterlichen Gemeinschaften sei das Aushalten und Wertschätzen von Verschiedenheit eine alltägliche Übung und zugleich ein Schlüssel für gemeinsames Wachstum. Tauber ergänzte, dass sich gesellschaftliche Debatten zu oft auf Unterschiede konzentrierten. Erst die bewusste Suche nach dem Verbindenden ermögliche ein konstruktives Miteinander, in Gemeinschaften ebenso wie in Unternehmen. Gerade in Zeiten tiefgreifender Veränderungen brauche es Räume, in denen Vielfalt ausgehalten, Dialog ermöglicht und gemeinsames Lernen gestärkt werde. Der Blick über Systemgrenzen hinweg könne helfen, neue Lösungsansätze für eine humane, effiziente und zukunftsfähige Arbeitswelt zu entwickeln.