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Mental Health: Wie die Realität in Unternehmen aussieht und wir sie positiv verändern können

Work Culture Festival

Nora Dietrich und Eva Elisa Schneider auf der ORGATEC zu Mental Health
IBA Redaktionsteam IBA Redaktionsteam ·
6 Minuten

Was bedeutet es, mentale Gesundheit in der Arbeitswelt wirklich ernst zu nehmen – jenseits von Wohlfühlkampagnen und Obstkörben? Genau darüber sprachen die Psychologin Dr. Eva Elisa Schneider und die Mental-Health-Expertin Nora Dietrich in ihrer Keynote auf dem Wherever Whenever – Work Culture Festival 2024. Die beiden Verhaltenstherapeutinnen räumten mit Missverständnissen und Wohlfühlfassaden auf und machten klar: Mentale Gesundheit ist kein Add-on, sondern ein zentrales Element einer zukunftsfähigen Organisation.

Realität trifft Anspruch: Einblicke in den Unternehmensalltag

Der Vortrag begann mit einem interaktiven Realitätscheck: Wie weit sind Unternehmen beim Thema Mental Health? Die Antworten der Festivalbesucher zeigten ein gemischtes Bild. Einige Organisationen verfolgen bereits ganzheitliche Ansätze mit internen Beratungsangeboten, Mental-Health-Botschaftern und unternehmensweiten Initiativen. In vielen anderen Unternehmen bleibt mentale Gesundheit jedoch ein unscharfer Begriff – oft reduziert auf Einzelmaßnahmen ohne strategischen Rahmen. Für Schneider und Dietrich ist das ein zentrales Problem. Mentale Gesundheit dürfe nicht reaktiv gedacht werden, vielmehr müsse sie integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie sein. Prävention bedeute nicht, nur auf Krisen zu reagieren, sondern Risiken frühzeitig zu erkennen und die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Gesundheit erhalten bleibt. Dazu zählen eine vertrauensvolle Unternehmenskultur, achtsame Führung und echte Partizipation. „Gesundheit entsteht im Alltag – oder eben nicht“, betonten die Expertinnen. Umso wichtiger sei es, mentale Gesundheit nicht als einmalige Initiative zu behandeln, sondern als langfristigen Kulturwandel zu begreifen – mit Ressourcen, klaren Verantwortlichkeiten und Sichtbarkeit.

Vom Wohlfühlpaket zur Verhältnisprävention

Allzu oft, so die Referentinnen, werde mentale Gesundheit als individuelles Thema betrachtet, mit Fokus auf Achtsamkeitstrainings oder Resilienzseminaren. Was dabei übersehen wird: Der Kontext ist entscheidend. Arbeitsverdichtung, fehlende Gestaltungsspielräume und mangelnde soziale Sicherheit sind strukturelle Belastungsfaktoren, die krank machen können. „Verhaltensprävention allein greift zu kurz“, sagt Schneider. „Wir müssen auch über Verhältnisse reden.“ Ein zentraler Hebel: Verhältnisprävention, also die Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen. Dazu gehören klare Zuständigkeiten, sichtbare Unterstützungsangebote, psychologische Sicherheit im Team und Führungskräfte, die Haltung zeigen – nicht nur mit Worten, sondern im täglichen Handeln. Die beiden Expertinnen plädierten für eine klare Strategie statt punktueller Einzelmaßnahmen und für eine Unternehmenskultur, in der mentale Gesundheit als Gemeinschaftsaufgabe verstanden wird. Nur so könne echte Veränderung möglich werden.

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Zwischen Impact und Inszenierung: Was ist echtes Engagement?

Während viele Unternehmen das Thema mentale Gesundheit inzwischen auf ihre Agenda gesetzt haben, bleibt oft unklar, ob es ein strategischer Wandel oder nur ein Lippenbekenntnis ist. „Wellwashing“ nennen Schneider und Dietrich das Phänomen, wenn Mental Health zum Marketinginstrument wird, ohne dass sich im Arbeitsalltag wirklich etwas ändert. Ein Beispiel: Im Mental Health Awareness Month 2024 strich McDonald’s das „Happy“ vom Happy Meal und löste damit eine gesellschaftliche Debatte aus. Die Botschaft: „It’s okay not to be okay.“ Was bleibt, ist die Frage, wie ernst es dem Unternehmen jenseits der PR-Geste wirklich ist. Denn interne Maßnahmen oder strukturelle Veränderungen wurden öffentlich nicht bekannt. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der Deutschen Bank: Dort wurde 2021 eine eigene globale Rolle für Wellbeing geschaffen. In über 400 Interviews hörte sich die Leiterin Nasrin Osmui die Anliegen und Themen der Führungskräfte an und entwickelte daraus eine globale Strategie – mit sichtbarer Unterstützung des Vorstands und umfassender Kommunikation auf allen Ebenen. Ob in Meetings, Town Halls oder am Geldautomaten: Mentale Gesundheit ist Teil der Unternehmenskultur geworden. Für Schneider und Dietrich ist klar: Tatsächlich ändert sich nur dort etwas, wo Mental Health konsequent mitgedacht, professionell begleitet und glaubwürdig gelebt wird. Sichtbarkeit, Verbindlichkeit und Partizipation sind dabei Schlüsselbegriffe. Nur wenn Angebote mehr sind als eine Ansammlung guter Absichten, nämlich Teil eines echten Kulturwandels, kann mentale Gesundheit wirksam gestärkt werden.

Sichtbarkeit schaffen, Verantwortung teilen

Ein weiteres zentrales Thema im Vortrag war die Sichtbarkeit von Mental-Health-Angeboten. Allzu oft existierten hilfreiche Maßnahmen – vom Employee Assistance Program über Trainings bis hin zu Check-ins –, ohne dass die Beschäftigten davon wüssten oder sie als relevant wahrnähmen. Schneider und Dietrich plädierten daher dafür, mentale Gesundheit in Unternehmen wie eine eigene Marke zu behandeln: mit Wiedererkennungswert, transparenter Kommunikation und sichtbaren Anknüpfungspunkten im Alltag. Nur wenn Angebote im Arbeitsalltag verankert sind, können sie wirken. Dazu braucht es Menschen, die Verantwortung übernehmen, zum Beispiel als Mental-Health-Botschafter im Team, und Führungskräfte, die mit gutem Beispiel vorangehen. „Jeder Mensch hat eine Geschichte, auch wenn nicht jeder eine Diagnose hat“, sagt Dietrich. Wer offen über Belastungen spricht, verbindet und trägt dazu bei, das kollektive Bewusstsein für ein Thema zu stärken, das alle angeht.

Der Vortrag endete mit einer klaren Botschaft: Es braucht keine perfekten Lösungen, sondern den Mut zum ersten Schritt. Mentale Gesundheit ist kein Ziel, sondern ein Prozess, der mit jedem Gespräch, jeder Entscheidung und jeder strukturellen Veränderung mitgestaltet wird. Ob Großkonzern oder kleines Team: Jede Organisation kann beginnen, einen eigenen Weg zu finden und so den Wandel hin zu einer gesunden Arbeitskultur aktiv mitgestalten.

Work Culture Festival Impressionen

Ikonische Momente erleben Hier finden Sie eine erste kleine Auswahl an Fotos des Festivals.

Dr. Eva Elisa Schneider ist promovierte Psychologin und Psychotherapeutin und erfolgreich als Speakerin und Trainerin tätig. Sie ist eine leidenschaftliche Botschafterin für mentale Gesundheit und setzt sich für eine moderne Arbeitswelt ein, in der offen und selbstverständlich mit mentaler Gesundheit am Arbeitsplatz umgegangen wird. Eva Elisa Schneider gilt als eine der führenden Köpfe zum Thema Mental Health und tritt regelmäßig in Podcasts, Interviews und Paneldiskussionen auf. Weitere Informationen: https://www.evaelisaschneider.com/

Nora Dietrich ist Expertin für mentale Gesundheit, Psychotherapeutin und Speakerin u. a. für das Zukunftsinstitut. Sie verbindet die beiden Megatrends New Work und Gesundheit und bricht mit längst verstaubten Tabus, um die Psychologie wieder salonfähig zu machen. Denn sie glaubt, dass die Arbeit der Zukunft vor allem eines ist: Gesund. Weitere Informationen: https://www.noradietrich.com/

Titelbild: © IBA