Innovation entsteht nicht aus Sicherheit, sondern aus dem produktiven Umgang mit Unsicherheit. Diese zentrale These zog sich wie ein roter Faden durch den Eröffnungsvortrag von Vaughn Tan am dritten Tag des Work Culture Festivals. Der Organisationsforscher, Strategieexperte und Autor des Buches The Uncertainty Mindset, der früher bei Google tätig war und heute als Berater arbeitet, forderte einen radikalen Wandel in der Art, wie Unternehmen denken, arbeiten und sich organisieren.
Von Google in die Küchen der Welt
Tan begann seine Karriere im Innovationsmanagement bei Google, wo er an der Einführung von Street View und anderen datengetriebenen Projekten arbeitete. Seine Neugier, was erfolgreiche Innovations-Teams ausmacht, führte ihn zu einem ungewöhnlichen Forschungsfeld: die Spitzen-Gastronomie. In Restaurants wie dem Fat Duck oder Noma beobachtete er, wie Teams unter Bedingungen hoher Unsicherheit kreative Höchstleistungen erbringen. Seine Erkenntnisse aus dieser Welt übertrug er später auf Start-ups, NGOs und Regierungsorganisationen.
Risiko ist nicht gleich Unsicherheit
Der Kern seines Vortrags war die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit. Während sich Risiken kalkulieren lassen und sich in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken, sind Situationen echter Unsicherheit durch radikale Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Ein Beispiel ist die Reaktion der WHO auf die Corona-Pandemie Anfang 2020: Mit klassischen Risikoanalysen versuchte die Organisation, auf das Virus zu reagieren – mit verheerenden Folgen. Die Annahme, man könne Unsicherheit mit denselben Instrumenten wie kalkulierbare Risiken behandeln, erwies sich als falsch. Tan betonte, dass Organisationen lernen müssen, Unsicherheit als eigenständige Kategorie zu begreifen: Sie ist weder quantifizierbar noch aus der Vergangenheit ableitbar. Wer das ignoriert, läuft Gefahr, gravierende Fehlentscheidungen zu treffen.
Innovationsarbeit bedeutet, nicht zu wissen
Aus dieser Perspektive ist Unwissenheit kein Makel, sondern der Ausgangspunkt für Innovation. Wer wirklich Neues schaffen möchte, muss anerkennen, dass zu Beginn nicht bekannt ist, welche Handlung möglich ist, welches Ergebnis wahrscheinlich ist und was überhaupt wünschenswert ist. Tan zufolge sind diese vier Arten des Nichtwissens – bezogen auf Handlung, Wirkung, Ergebnis und Wert –, das Fundament von Innovationsarbeit. Gerade diese Unklarheit öffnet den Raum für Experimente, Perspektivwechsel und radikal neue Lösungsansätze. Innovation ist somit weniger das planbare Ergebnis strukturierter Prozesse, sondern das Produkt einer gezielten Auseinandersetzung mit dem Unbekannten. Nur wer sich aktiv mit Nichtwissen auseinandersetzt, kann echte Neuerungen hervorbringen.
Organisationen müssen anders aufgebaut werden
Doch wie können Unternehmen Unsicherheit produktiv nutzen? Tan plädiert für ein Umdenken im Organisationsdesign. Anstelle starrer Rollenverteilungen, klar messbarer SMART-Ziele und klassischer Anreizsysteme empfiehlt er offen definierte Rollen, sogenannte open-ended roles, Lernfortschritt über Zielerreichung zu stellen und bewusst Situationen zu schaffen, in denen sich Teams an Herausforderungen außerhalb ihrer Komfortzone wagen müssen. Diese Strategie nennt er Desperation by Design: der produktive Druck, der Innovation erzwingt. Ein Beispiel: 80 % einer Stelle können klar definiert sein, die restlichen 20 % bleiben offen, um individuelles Potenzial zu entfalten. Ziele wiederum sollten nicht starr sein, sondern im Laufe eines Projekts überprüft und angepasst werden können. Entscheidender als das Erreichen eines Zielwerts ist, dass Mitarbeiter lernen und sich weiterentwickeln.
Experimente als Strukturprinzip
Für Vaughn Tan ist das Experimentieren ein zentrales Werkzeug im Umgang mit Unsicherheit. Allerdings nicht in Form aufwendiger Großprojekte mit hohem Risiko, sondern durch viele kleine, gezielte und kostengünstige Versuche. Tan versteht diese Form des kontinuierlichen Lernens als Rapid Prototyping im Alltag: schnell, iterativ und anpassbar. Das Ziel ist nicht, sofort die perfekte Lösung zu finden, sondern möglichst schnell herauszufinden, was nicht funktioniert, um daraus zu lernen und es besser zu machen. Diese Form des Experimentierens soll bewusst niedrigschwellig angelegt sein, um Hemmungen und Ängste vor dem Scheitern zu minimieren. „Scheitern darf nicht teuer oder peinlich sein“, betonte Tan. Scheitern sei vielmehr ein notwendiger Bestandteil des Innovationsprozesses, solange es als Lernanlass genutzt werde. Entscheidend ist, Experimente so zu gestalten, dass sie Erkenntnisse liefern, ohne den Fortbestand des Projekts oder der Organisation zu gefährden.
Die Rolle des physischen Raums
Tan äußerte sich auch zur Gestaltung von Arbeitsräumen. Gerade in Zeiten hybrider Arbeit seien physische Orte wichtig, die Begegnung, Austausch und gemeinsames Denken ermöglichen. Solche Räume sind nicht nur Kulisse, sondern ein aktiver Bestandteil von Unternehmenskultur und Innovationsfähigkeit. Sie bieten die Möglichkeit, Vertrauen aufzubauen, gemeinsame Werte zu entwickeln und kollaboratives Lernen zu fördern. Dies sind alles essenzielle Voraussetzungen für echte Innovationsarbeit. Tan betonte, dass physische Räume ein Ort des geteilten Nichtwissens sein können. Räume also, in denen Unsicherheit nicht verdrängt, sondern offen geteilt und kreativ bearbeitet wird. Architektur, Möblierung und Atmosphäre tragen entscheidend dazu bei, ob Menschen bereit sind, Ideen zu hinterfragen, neue Wege zu denken und gemeinsam mutige Schritte zu gehen. Gerade für Unternehmen, die Innovationsprozesse fördern wollen, ist es deshalb unerlässlich, Arbeitsumgebungen bewusst so zu gestalten, dass sie Offenheit, Vertrauen und Flexibilität ermöglichen. Räume sind somit nicht nur Infrastruktur, sondern Teil der Unternehmensstrategie.