Am 1. Juli 2024 wurde die neue Technische Regel für Arbeitsstätten (ASR) A6 „Bildschirmarbeit“ veröffentlicht. Damit werden die Anforderungen der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) im Bereich Bildschirmarbeit und Bildschirmarbeitsplätze erstmals zusammenhängend in einer ASR formuliert. Die IBA Forum Redaktion sprach mit Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder, Professor für Arbeitswissenschaft an der TU Dresden, und Volker Weßels, Quality-Office-Koordination im IBA.
Was sind ASR und welche Bedeutung haben sie?
Martin Schmauder: ASR ist die Abkürzung für Arbeitsstättenregel, wobei die korrekte Bezeichnung „Technische Regel für Arbeitsstätten“ lautet. Die ASR ist eine Präzisierung der Arbeitsstättenverordnung. Sie legt fest, welche Maßnahmen Unternehmen beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten ergreifen müssen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten.
Volker Weßels: Bei Einhaltung der ASR kann der Arbeitgeber davon ausgehen, dass die entsprechenden Anforderungen der Verordnung erfüllt sind. Es gilt dann die Vermutungswirkung. Vielleicht noch eine Ergänzung aus der Praxis: Abweichungen von den Inhalten der ASR sind möglich, wenn Unternehmen nachweisen können, dass sie die Anforderungen nach dem aktuellen Stand der Technik erfüllt haben. Das löst dann ebenso eine Vermutungswirkung aus. Wählt der Arbeitgeber eine andere Lösung, muss er damit aber mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Schutz der Gesundheit für die Beschäftigten erreichen.
Wie kommen ASR zustande und wer arbeitet alles mit?
Martin Schmauder: Die ASR haben die Aufgabe, die Arbeitsstättenverordnung zu konkretisieren. Sie werden vom Ausschuss für Arbeitsstätten (ASTA) erarbeitet, der beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) angesiedelt ist. Der ASTA ist ein paritätisch besetzter Ausschuss aus Vertretern der Länder bzw. der Gewerbeaufsicht, der Unfallversicherungsträger, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Wissenschaft. Alle Akteure arbeiten zusammen und beschließen die Technischen Regeln im Konsensverfahren, oft nach langer und ausführlicher Diskussion. Für die Ausarbeitung der Details werden Projektgruppen gebildet, die auf Basis vorhandener arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse die Konkretisierung der Technischen Regel vornehmen. Nach Fertigstellung erfolgt die Veröffentlichung durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und die Bekanntmachung im Gemeinsamen Ministerialblatt (GMBl). Ergänzend zu den ASR erarbeitet der ASTA Empfehlungen für weitere Maßnahmen zur Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten, die jedoch keine Vermutungswirkung entfalten.
Für welche Arten von Bildschirmarbeitsplätzen gilt die ASR A6 und warum heißt sie nur „Bildschirmarbeit“, obwohl der entsprechende Abschnitt 6 der ArbStättV „Maßnahmen zur Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen“ heißt?
Martin Schmauder: Die ASR A6 gilt für alle Arten von Bildschirmarbeitsplätzen, also Arbeitsplätze, an denen regelmäßig Bildschirmgeräte verwendet werden. Dies umfasst sowohl stationäre als auch mobile Arbeitsplätze im Unternehmen, an denen Computer, Laptops, Tablets oder andere bildschirmbasierte Geräte genutzt werden. Mittlerweile gibt es fast überall einen Bildschirm am Arbeitsplatz. Der Begriff „Bildschirmarbeit“ fokussiert auf die Tätigkeit selbst und die damit verbundenen ergonomischen und gesundheitlichen Anforderungen, während der Begriff „Bildschirmarbeitsplatz“ den physischen Ort und die Einrichtung beschreibt. Damit wird deutlich, dass die ASR A6 nicht nur die räumliche Gestaltung, sondern auch die Arbeitsweise und die Arbeitsumgebung im Zusammenhang mit Bildschirmarbeit regelt. Bei der Bildschirmarbeit im Sinne der ASR A6 findet eine Mensch-Technik-Interaktion statt, es gibt eine Eingabe und eine Ausgabe. Die Ausgabe erfolgt visuell über Bildschirme und die Eingabe über verschiedene Eingabegeräte, also mindestens Tastatur, Maus oder auch Gestensteuerung und Spracheingabe.
Volker Weßels: Wir machen die Bildschirmarbeit zum Gegenstand der ASR und nicht nur die Arbeitsplätze, weil alles zusammenhängt und weil es auch im Anhang 6 der Arbeitsstättenverordnung so aufgelistet ist. Es geht auch nicht nur um die reine Arbeitsplatzgestaltung, sondern es geht auch um die Arbeitsabläufe und die Arbeitsorganisation, also, dass auch Pausen gemacht werden oder Belastungssituationen verändert werden.
Was war denn das Ziel einer ganz neuen ASR? Verbindliche Mindeststandards festlegen, weil die DGUV-Informationen nicht ausreichend verbindlich sind oder bisher ungeregelte Bereiche zu regeln oder auch etwas ganz anderes?
Martin Schmauder: Die ASR A6 gilt für alle Arten von Arbeitsplätzen, nicht nur für das klassische Büro. Für den Bürobereich fasst sie im Wesentlichen Inhalte zusammen, die bereits aus der DGUV-Regel 115–401 „Branche Bürobetriebe“ und verschiedenen DGUV-Informationen bekannt sind. Die DGUV-Regeln oder auch andere Publikationen eignen sich hervorragend, um gute Bildschirmarbeitsplätze einzurichten, die nicht nur die Mindeststandards erfüllen. Mit der Veröffentlichung der ASR A6 als Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben erhalten diese Inhalte nun eine höhere Verbindlichkeit. Sie konkretisiert erstmals auch Untergrenzen in einer Technischen Regel. Darüber hinaus bezieht sie auch neue Arbeitsformen mit ein, man denke hier zum Beispiel an Open Offices sowie eingerichtete Telearbeitsplätze und das regelmäßige ortsveränderliche Arbeiten mit tragbaren Bildschirmgeräten am Arbeitsplatz. Auch hier ist aus arbeitswissenschaftlicher Sicht nach zwei Stunden ohne Pause eine physiologische Grenze erreicht, ab der das Arbeiten nur mit einem Notebook beendet werden sollte, um gesundheitliche Beeinträchtigungen zu vermeiden.
Volker Weßels: Bei der Anwendung der ASR ist zu beachten, dass die mobile Arbeit, zum Beispiel im Homeoffice, damit nicht geregelt wird. Für diese gibt es weiterhin keine festen politischen Zielvorgaben.
Wurde denn das duale Arbeitsschutzsystem von Staat und Berufsgenossenschaften durch die ASR A6 gestärkt?
Martin Schmauder: Im Prinzip ja, weil es jetzt diese Vermutungswirkung gibt, man also tatsächlich etwas in der Hand hat. Bisher gab es ja, wie Herr Weßels schon sagte, qualifizierte Erkenntnisse der Unfallversicherungsträger und der BAuA. Aber diese legen eben keine Mindeststandards fest, die man auch einfordern kann. Insofern ist tatsächlich eine Stärkung erreicht worden. Und noch einmal, die ASR A6 definiert Mindeststandards, das heißt nicht, wenn man das so macht, hat man das Optimum erreicht. Sondern die ASR ist die Untergrenze, die Mindestanforderungen aus dem Arbeitsstättenrecht konkretisiert. Unternehmen, die sagen, wir wollen gute Arbeitsbedingungen schaffen, die werden auch mit der ASR A6 keine Probleme haben. Aber wenn Unternehmen sagen, okay, wir wollen es hier möglichst billig und einfach haben und möglichst viele Leute auf wenig Raum unterbringen, die können zu Recht auch in Konflikt mit dem Regelwerk kommen.
Wo wurde denn am längsten diskutiert und was war den Sozialpartnern besonders wichtig?
Martin Schmauder: Am längsten wurde über die Nutzung von tragbaren Bildschirmgeräten wie Notebooks diskutiert. Ebenso über den Geltungsbereich der ASR A6 und mögliche Ausnahmen. Und selbst wenn die Arbeitsstättenverordnung im Homeoffice nicht gilt, kann die ASR A6 dort zumindest als Hinweis und Beurteilungsmaßstab herangezogen werden, auch wenn sie nicht verbindlich eingefordert werden kann.
Gibt es denn Differenzen zur Fachdiskussion der Büro- und Objektbranche, weil der Anwendungsbereich jetzt breiter ist und über die reine Bürowelt hinausgeht?
Martin Schmauder: Ich würde eher sagen, dass wir Erstaunen ausgelöst haben, weil wir den Anwendungsbereich breiter gedacht haben als die reine Bürowelt. Bildschirmarbeit findet in Werkstätten statt, in Laboren, an Bedienungstheken, in der Bildbearbeitung. Also wesentlich breiter als die typische Bürowelt und deshalb sind wir an einigen Stellen auch unter die bekannten Werte gegangen. So sind wir bei der Mindestbreite von Arbeitstischen deutlich unter dem, was typischerweise im Bürobereich angesetzt wird. Das ist eine Öffnung, weil wir eben die Bildschirmarbeit insgesamt betrachten und nicht nur die Büroarbeit.
Die ASR enthält verbindliche Mindeststandards, Muss- und Soll-Formulierungen sowie Empfehlungen. Wo können sich Unternehmen und Beschäftigte darüber hinaus informieren?
Martin Schmauder: Zunächst möchte ich auf die Begriffe „muss“ und „soll“ eingehen. „Muss“ ist eindeutig. Müssen heißt wirklich müssen. Wenn irgendwo in der Regel „sollen“ steht, dann interpretieren Juristen „sollen“ als „müssen für die, die können“. Mindeststandards sind Untergrenzen, von denen nach oben abgewichen werden kann. In der Regel ist es auch das Anliegen des Arbeitgebers, ordentliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, denn diese werden heute immer stärker in Zusammenhang mit der Unternehmenskultur und der Arbeitgeberattraktivität gebracht. Weitere Informationen finden sich in den Regelwerken der DGUV und der VBG. Und auch die Informationsschriften der BAuA und der Gewerkschaften enthalten viel gebündeltes Wissen.
Zum Schluss noch eine Frage zu Quality Office. Ist die ASR A6 für Ihre Tätigkeit als Prüfer der „Quality Office Consultants“-Zertifizierung relevant?
Martin Schmauder: In jedem Fall ja, wobei ich das Thema im Zusammenhang mit anderen Faktoren wie Flächen, Fluchtwegen, Licht, Lärm oder auch Klima sehe. Quality Office Consultants sollten das bestehende Regelwerk verinnerlichen und vor allem wissen, dass es jetzt mit der ASR A6 eine Mindestanforderung gibt, die Unternehmen erfüllen sollten und die auch eine gewisse Rechtsverbindlichkeit hat. Spannend wird das unter anderem bei der Berechnung von Sharing-Quoten und der Gestaltung der vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten.
Herr Prof. Schmauder, Herr Weßels, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder hat seit 2000 die Professur für Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Dresden inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Arbeitsorganisation, menschengerechte Arbeitsgestaltung, Ergonomie und Human Resource Management. Außerdem ist er Mitglied im ASTA – Ausschuss für Arbeitsstätten und im ABS – Ausschuss für Betriebssicherheit des BMAS sowie Präsident der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA). Weitere Informationen unter: https://tu-dresden.de/ing/maschinenwesen/itla/aiw/die-professur/kurzvita-professor-schmauder und https://www.linkedin.com/in/martin-schmauder-7046321bb/.
Volker Weßels ist seit 2014 Referent im Industrieverband Büro und Arbeitswelt e.V. (IBA), Wiesbaden, und leitet die Fachbereiche Nachhaltigkeit, Normung und Quality Office. Er verantwortet die Quality-Office-Zertifizierung für Produkte und Consultants, die von fünf Institutionen der Branche unterstützt wird, und ist als Experte im Sachgebiet Büro der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) aktiv. Weitere Informationen: https://www.linkedin.com/in/volker-weßels-655107b6/.
Titelbild: Wilkhahn