„Ab und zu einfach mal dasitzen und blöd schauen“ – dass Dr. Bernd Hufnagl als einer der weltweit führenden Neurobiologen seinen Zuhörern diesen Rat gibt, ist nur auf den ersten Blick paradox. Denn im Idealfall erreiche man – so der renommierte Hirnforscher – auf diese Weise einen Zustand, der ein Schlüssel zu mehr Zufriedenheit und Leistungsbereitschaft sein kann.
Hufnagl, der unter anderem die Zusammenhänge zwischen einer immer stärker verdichteten digitalen Arbeitswelt und der Gesundheit erforscht, riet den Teilnehmern der NWX22 am 20. Juni 2022 in Hamburg zum täglichen Tagträumen und dem ganz bewussten Planen von Mikropausen. Ziel sei, mit der sogenannten „Selbstwirksamkeit“ ein Gefühl zu erreichen, sein Leben selbst beeinflussen und steuern zu können. „Das ist eine zentrale Bedingung für unser Wohlergehen“, so Hufnagl.
Der Tag als endlose To-Do-Liste
Doch in der modernen Arbeitswelt werde dieses Gefühl massiv behindert: durch Arbeiten, die uns auferlegt werden, ohne dass wir ihren Sinn begreifen. Hinzu komme das ungeheure Tempo, das uns die Digitalisierung mit ihren verdichteten Aufgaben und rasanten Kommunikationsabläufen aufbürdet. „Aufmerksamkeitsstörungen, Stresssymptome und psychische Erkrankungen nehmen zu, die Belastbarkeit und Motivation der Beschäftigten nimmt ab. Der Tag wird zur endlosen To-do-Liste.“
Dabei ist die Fähigkeit, langfristig in die Zukunft prognostizieren und planen zu können, zunächst einmal eine evolutionäre Errungenschaft, die nur der Mensch für sich beanspruchen kann. Allerdings führe diese Fähigkeit oftmals auch dazu, in einem permanenten „To-do-Listen-Modus“ zu sein, zu grübeln und schlimmstenfalls Zukunftsängste zu entwickeln.
Das „Tagträumernetzwerk“ aktivieren und einfach mal loslassen
Das Gegenteil dieses Zustandes sei im „Default mode network“ des Gehirns zu finden, das Hufnagl auch als „Tagträumernetzwerk“ bezeichnete und das auch im EEG beobachtet werden könne. Hier lasse man seinen Gedanken freien Lauf, könne loslassen. Dabei bekomme man idealerweise eine Außenperspektive auf das eigene Leben, die bei der kreativen Ideenfindung helfe. „Da zu sitzen und blöd zu schauen – das kann man sich sogar als Termin eintragen“, so der Rat des Wissenschaftlers. Denn ansonsten bestehe die Gefahr, dass die alltägliche Daueranspannung die Aktivierung dieses Modus unterdrücke.
Dass diese Fähigkeit mehr und mehr verloren geht, zeigt eine Vergleichsstudie: Im Jahr 2004 wurden 2000 Menschen per EEG untersucht – 30 % von ihnen waren in der Lage, im „Default mode“ zu entspannen. Im Jahre 2019 waren es in der gleichen Versuchsanordnung nur noch 5 %, die in einer kurzen Auszeit „loslassen“ konnten. Eine Ursache sieht Hufnagl unter anderem im Smartphone, durch das wir jeden Moment unserer Zeit für irgendeine Tätigkeit nutzen. Daher lautete sein diesbezüglicher Rat: „Die Dosis macht das Gift. Schaffen Sie bewusst Auszeiten für Tagträume!“