Dr. Matthias Brendel, Experte für Technologie und Nachhaltigkeit, verbindet seine langjährige Erfahrung in der Automobilindustrie mit seiner Leidenschaft für nachhaltige Innovationen. Im IBA Forum Interview spricht er über die Rolle technologischer Entwicklungen bei der Förderung von Nachhaltigkeit, die Bedeutung der Kreislaufwirtschaft und wie wertebasierte Führung die Innovationskultur in Unternehmen prägen kann.
Technologische Innovationen spielen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung globaler Herausforderungen. Welche Technologien halten Sie für besonders vielversprechend, um Nachhaltigkeit zu fördern?
Technologie bietet uns enorme Möglichkeiten, Nachhaltigkeit in den verschiedensten Bereichen voranzutreiben. Im Handel sehe ich großes Potenzial in KI-basierten Lösungen wie dem sogenannten Digital Sizing. Durch die präzise Messung von Körper- oder Schuhgrößen können Retouren deutlich reduziert werden – ein Schritt, der nicht nur Transport- und Verpackungskosten spart, sondern auch den CO₂-Ausstoß minimiert. Auch für den Handel lohnt sich das, denn weniger Retouren schonen logistische und finanzielle Ressourcen. In der Industrie bieten Technologien wie Carbon Capturing and Usage (CCU: Kohlendioxid-Abscheidung und ‑Nutzung) oder Carbon Capturing and Storage (CCS: Kohlendioxid- Abscheidung und ‑Speicherung) Lösungen, um CO₂-Emissionen effektiv zu reduzieren und damit einen entscheidenden Beitrag zur Entlastung der Umwelt zu leisten. In der Landwirtschaft eröffnet der Ansatz der naturidentischen Lebensmittel neue Möglichkeiten: Durch die biotechnologische Herstellung von Lebensmitteln wie Milch oder Fleisch können wir Agrarflächen, Emissionen und Tierleid deutlich reduzieren.
Häufig wird argumentiert, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit in Widerspruch zueinander stehen. Wie kann Technologie dazu beitragen, diesen Widerspruch aufzulösen?
Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit können sich hervorragend ergänzen – wenn man die richtigen Ansätze verfolgt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kreislaufwirtschaft. Sie ermöglicht es, Produkte länger im Kreislauf zu halten und mehrfach zu nutzen. Ein anschauliches Beispiel aus der Automobilindustrie ist die Lichtmaschine: Ein Auto benötigt im Laufe seines Lebens durchschnittlich drei Lichtmaschinen, die aber nicht immer wieder neu produziert werden müssen. Stattdessen werden defekte Lichtmaschinen aufgearbeitet und das Bauteil ist bereit für ein weiteres Leben. Das spart nicht nur Energie und Ressourcen, sondern rechnet sich auch für die Unternehmen. Bosch hat übrigens über Jahrzehnte mit der Aufarbeitung von Lichtmaschinen mehr Gewinn gemacht als mit Neuprodukten. Ähnliche Konzepte sehen wir im Handel: Plattformen wie Refurbed setzen auf die Aufarbeitung gebrauchter Geräte, die dann günstiger verkauft werden. Das Modell reduziert Elektroschrott, spart Ressourcen und schafft attraktive Angebote für Verbraucher. Der Schlüssel liegt hier im Einsatz digitaler Technologien, die solche Prozesse effizient und transparent machen.
Die Digitalisierung wird häufig als Katalysator für nachhaltige Entwicklungen genannt. Gibt es konkrete Beispiele, die zeigen, wie digitale Lösungen nachhaltige Geschäftsmodelle unterstützen?
Ein Beispiel ist der Einsatz von KI-gestützten Systemen zur Energieeinsparung in Gebäuden. Durch die Analyse von Nutzungsmustern können Heizung oder Beleuchtung nur dann aktiviert werden, wenn sich tatsächlich Menschen in den Räumen aufhalten. So wird der Energieverbrauch dynamisch gesteuert und deutlich reduziert. Ein weiteres Beispiel findet sich in der Lebensmittelbranche: KI-Tools, wie Foodforecast, die in Bäckereiketten eingesetzt werden, können anhand historischer Daten, der Wettervorhersage und Feiertagskalendern präzise vorhersagen, wie viel Backwaren benötigt werden. Überproduktionen lassen sich so um bis zu 30 % reduzieren – das schont nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern verringert auch die Verschwendung von Lebensmitteln.
Kreislaufwirtschaft bedeutet, dass Produkte möglichst lange genutzt und am Ende recycelt werden können. Welche Rolle spielen dabei digitale Technologien?
Technologien sind entscheidend, um den Lebenszyklus von Produkten vollständig transparent zu machen. Ein hervorragendes Beispiel liefert die Automobilindustrie mit dem International Material Data System (IMDS), das seit über 20 Jahren im Einsatz ist. Dieses System erfasst detailliert die Materialien eines Fahrzeugs – selbst kleinste Bauteile – und ermöglicht eine gezielte Planung von Recycling und Wiederverwendung. Dank dieser Transparenz liegt die Recyclingquote von Autos in Deutschland bereits bei 87 %, bis 2030 sollen es 95 % sein. Solche Ansätze lassen sich gut auf andere Branchen übertragen. Ein digitaler Produktpass könnte beispielsweise in der Möbel- oder Elektronikindustrie nicht nur die verwendeten Materialien, sondern auch ihre Herkunft und ihren Verarbeitungsprozess dokumentieren. Das würde es erleichtern, Produkte am Ende ihres Lebenszyklus in ihre Bestandteile zu zerlegen und wiederzuverwenden. Gleichzeitig wäre es möglich, die CO₂-Bilanz eines Produkts für den gesamten Lebenszyklus zu erfassen.
Welche Schwierigkeiten bestehen derzeit bei der Integration solcher Lösungen in bestehende Systeme?
Die größte Schwierigkeit ist oft die Qualität und Verfügbarkeit der Daten. Eine saubere und verlässliche Datenbasis ist die Grundlage für den Erfolg solcher Lösungen. Fehlt sie oder ist sie unzureichend, können auch die besten Technologien ihr Potenzial nicht entfalten. Ein weiterer Punkt ist der notwendige Kulturwandel in den Unternehmen. Es geht darum, vom kurzfristigen Denken wegzukommen und die langfristigen Vorteile nachhaltiger Ansätze zu erkennen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland. Während Unternehmen in Großbritannien Anforderungen wie die Rückverfolgbarkeit von Lieferketten als Chance begreifen, um Innovationen voranzutreiben und Wettbewerbsvorteile zu generieren, herrscht in Deutschland häufig noch Zurückhaltung. Oft wird versucht, notwendige Schritte hinauszuzögern, anstatt die Chancen offensiv anzugehen. Als Unternehmen kann ich mir aber nur dann einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wenn ich den Wandel frühzeitig umsetze.
Sie haben sowohl in Konzernen als auch in innovationsgetriebenen Einheiten gearbeitet. Welche Faktoren begünstigen eine Kultur, in der Innovation gedeihen kann?
Mitarbeiter müssen sich trauen, neue Ideen einzubringen, ohne Angst vor Fehlern zu haben. Es geht darum, ein Umfeld psychologischer Sicherheit zu schaffen, in dem jede Meinung zählt, Experimente willkommen sind und Fehler als Lernchancen gesehen werden. Ein weiteres wichtiges Element ist die Aufnahme von Impulsen von außen. Je größer eine Organisation wird, desto größer ist die Gefahr, dass sie sich in ihrer eigenen abgeschotteten Welt bewegt. Dies führt häufig dazu, dass disruptive Ideen übersehen werden. Ein prägnantes Beispiel ist die Automobilindustrie: Während sich die etablierten Hersteller gegenseitig versicherten, dass die Zukunft des Verbrennungsmotors gesichert sei, kam Tesla auf den Markt und drehte den gesamten Markt in Richtung Elektromobilität. Das zeigt, wie wichtig es ist, kritische Ideen intern zuzulassen, zu diskutieren und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Gleichzeitig ist eine klare Vision unerlässlich. Innovation braucht nicht nur den Mut, Neues auszuprobieren, sondern auch die strategische Geduld, Entwicklungen über 10, 15 oder gar 20 Jahre voranzutreiben. Unternehmen wie Nokia oder Kodak haben gezeigt, wie gefährlich es ist, diesen langfristigen Fokus zu verlieren. Kodak hatte beispielsweise die Digitalkamera in der eigenen Vorentwicklung schon 1975 erfunden, aber nicht weiterverfolgt, weil sie das bestehende Geschäftsmodell angegriffen hätte. Die Konkurrenz nutzte die Chance und Kodak verlor seine Marktposition und ging Bankrott. Unternehmen, die Innovation wirklich vorantreiben wollen, müssen also ihre Strategien langfristig ausrichten, kritisches Denken fördern und die Offenheit haben, das eigene Geschäftsmodell infrage zu stellen. Nur so können sie den entscheidenden Schritt machen, der nicht nur kurzfristigen Erfolg bringt, sondern auch ihre Zukunft sichert.
Welche Entwicklungen oder Trends sehen Sie in den nächsten zehn Jahren, die das Zusammenspiel von Technologie, Nachhaltigkeit und Führung prägen werden?
Ich bin überzeugt, wir werden immer mehr digitale Tools sehen, die Nachhaltigkeit messbar machen – von KI-gestützten Analysen, die Unternehmen helfen, ihre Emissionen besser zu verstehen und zu reduzieren, bis hin zu Blockchain-Lösungen, die Transparenz und Vertrauen in globalen Lieferketten schaffen. Diese Technologien werden es ermöglichen, Nachhaltigkeit in den Kern unternehmerischen Handelns zu integrieren und greifbarer zu machen. Gleichzeitig wird sich der Fokus der Unternehmen weiter in Richtung wertebasierte Führung verschieben. Kunden und Mitarbeiter erwarten zunehmend, dass Unternehmen nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und ökologische Verantwortung übernehmen. Führungskräfte müssen klare Visionen entwickeln und langfristige Strategien verfolgen, die diese Erwartungen nicht nur erfüllen, sondern aktiv mitgestalten. Dabei geht es weniger um kurzfristige Gewinnmaximierung als vielmehr um die Schaffung nachhaltiger Werte, die über Jahrzehnte Bestand haben. Entscheidend wird dabei sein, Technologie und menschliches Handeln in Einklang zu bringen. Denn so fortschrittlich unsere Tools auch sein mögen, am Ende sind es die Menschen – Führungskräfte und Mitarbeiter –, die Innovation und Wandel wirklich vorantreiben.
Herr Dr. Brendel, vielen Dank für das Gespräch.