Welche Rolle spielen Unternehmenskultur und Führungsprinzipien in einem Unternehmen, das den kontinuierlichen Wandel auch als Unternehmenszweck hat? Die IBA Forum Redaktion sprach mit Thomas Fell, Geschäftsführer von GS1, über die Prinzipien erfolgreicher Führung und kultureller Transformation sowie über die Bedeutung von Freiheit, Verantwortung und Zusammenarbeit im modernen Arbeitsumfeld.
Thomas, was genau macht GS1?
Wir sind eine weltweite Organisation, die dafür sorgt, dass Produkte ein-eindeutig und überschneidungsfrei identifizierbar sind, mit allem, was dazugehört. Man kennt uns recht gut aus der Konsumgüterindustrie mit dem Barcode und dem „Beep an der Kasse“. Vor 50 Jahren wurde der erste Barcode auf einem Produkt gescannt, auf einer Zehnerpackung Wrigley’s Kaugummi. Das ist die „Spitze des Eisbergs“, einer der wohl bekanntesten Standards zur Produktidentifizierung. Und drum herum gibt es eine ganze Reihe weiterer Standards, die in vielen Branchen Anwendung finden, immer dann, wenn man Dinge über Unternehmensgrenzen hinweg interoperabel identifizieren muss. In dem Moment, wo es Beziehungen in Lieferketten gibt, wo man interoperabel ist, macht es Sinn, sich auf globale Standards zu einigen. Und wenn wir dann an das Internet der Dinge denken, in dem die Dinge miteinander kommunizieren und miteinander Verträge abschließen, dann wäre es clever, wenn sie wüssten, wer der andere ist. Durch eine globale Vereinbarung, eine globale Sprache oder eben einen globalen Standard.
Ihr habt vor Kurzem euer 50-jähriges Bestehen unter dem Motto „The Art of Transforming Tomorrow“ gefeiert. Und für mich stellt sich die Frage: Auf welcher Unternehmenskultur basiert ein Unternehmen wie das eure, das den kontinuierlichen Wandel als Unternehmenszweck hat?
Wenn wir uns von unserem Zweck her definieren, wofür wir da sind, dann hat das schon einige kulturelle Implikationen. Der Zweck jedes Unternehmens ist es, die Probleme seiner Kunden zu lösen. Unser Zweck ist es, in der Community durch Standardisierung dafür zu sorgen, dass Unternehmen eine Sprache finden, mit der sie Daten intelligent austauschen können. Die Überzeugung, dass man Probleme gemeinsam besser löst als allein, ist tief in unserer DNA verankert und uns treibt seit 50 Jahren an, gemeinsam zu handeln und den Status quo zu verbessern. Das ist insbesondere bei allem Neuen schwierig und ist dann so ein Henne-Ei-Problem. Und da braucht es immer ein paar Verrückte, Verrückte im Sinne von „ihrer Zeit voraus“, die sagen, wir machen das jetzt einfach mal. Und ohne diese Menschen, die den Mut haben, einfach mal etwas auszuprobieren, würden solche Dinge, wie vor 50 Jahren der Barcode auf der Verpackung und die Scannerkasse im Handel, nicht in Gang kommen.
Du hast gesagt, dass es in eurer DNA liegt, gemeinsam Werte zu schaffen und innovativ zu sein. Welche Führungsprinzipien braucht es dafür bzw. wie muss das Selbstverständnis eines Unternehmens beschaffen sein, damit das funktioniert?
Es fängt für mich ganz vorne an, bei denjenigen, die für sich in Anspruch nehmen, eine Organisation maßgeblich zu führen oder Impulse zu geben. Dass sie das, was sie von anderen verlangen, auch selbst tun – Walk the Talk. Insofern ist das Thema Vorbild sicherlich wichtig. Ebenfalls wichtig ist, dass man Räume schafft, in denen das Ausprobieren möglich ist. Wir haben das gemacht und in unserer Transformation Experimente und Initiativen ermöglicht, die jeder starten kann, sich ein paar Verbündete sucht und dann Dinge ausprobiert. Das ist ein starkes Element unserer Kultur. Wir sprechen bei GS1 auch weniger von Fehler- als von Lernkultur. Wir wollen nämlich keine Fehlerkultur. Lernkultur ist für uns der bessere Begriff, nicht nur semantisch, sondern auch im Erleben und in dem, was wir darunter verstehen. Es lässt sich auch aus positiven Erfahrungen lernen, nicht nur aus negativen. Ich glaube auch, dass man keine Fehler machen kann. Fehler passieren, weil „machen“ ja eine Absicht voraussetzt. Ich bin überzeugt, dass niemand vorsätzlich Fehler macht. Es ist auch einfacher damit umzugehen, wenn man statt „Da hast du einen Fehler gemacht“ sagt: „Dir ist ein Fehler passiert“. Dass man darüber redet, was was ist. Das ist eine ganz andere Herangehensweise. Jetzt werden manche sagen, das ist alles reine Wortklauberei. Für mich ist Sprache aber ein Stück Wirklichkeit und gelebte Kultur.
Kultur ist am Ende des Tages das, was in deiner Organisation als normal gilt. Thomas Fell
Werfen wir einen Blick auf eure Organisationsstruktur. Nach welchen Prinzipien arbeitet ihr bei GS1?
Wir sind als Wabenstruktur organisiert. Das ist weit mehr als eine andere Form der Darstellung, denn darin steckt auch unsere Überzeugung, Menschen zu stärkenorientiertem Handeln und Selbstverantwortung zu befähigen. Für uns steht der Kunde im Mittelpunkt unseres Handelns, denn seine Probleme zu lösen, ist unser Unternehmenszweck. Um den Kunden herum gruppieren sich vier Offerings, um die sich wiederum die Enterprise-Waben gruppieren, die die Offerings dabei unterstützen, gut für den Kunden arbeiten zu können. Meine Tätigkeit ist in der Enterprise-Wabe „Corporate Strategy“ angesiedelt. Meine Verantwortung besteht darin, die Überlebensfähigkeit der Organisation durch eine sich selbst tragende Strategie und Leitlinien sicherzustellen. Und eine solche Organisationsform führt dazu, Stichwort Subsidiaritätsprinzip, dass wir sagen, Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo die Informationen sind, statt sie hierarchisch durch das Unternehmen hochzutragen. Ein Beispiel: Die Reisekostenrichtlinie funktioniert bei uns so, dass wir sagen: „Mach’s so, wie du es privat auch gemacht hättest.“ Denn: Wenn ich von unternehmerischer Selbstverantwortung spreche, dann gehört dazu auch, dass ich selbst entscheiden kann, wie ich intelligent reise. Und das fängt mit einem anderen Menschenbild an. Wenn ich das Vertrauen habe, dass die Menschen das schon richtig und gut machen, dann komme ich mit ein paar Prinzipien aus und brauche nicht 100.000 Regeln, die sowieso nie passen. Denn damit erreichst du nichts. Du ärgerst nur die 90 %, die verantwortungsvoll damit umgehen, und die 10 %, die du mit dieser Regel erwischen willst, die erwischst du sowieso nicht, weil sie, bevor du die Regel durchgesetzt hast, schon den Workaround gefunden haben, um die Regel zu umgehen.
Was sind eure Führungsgrundsätze?
Über allem steht die Freiheit. Und Freiheit braucht Verantwortung. Aber Verantwortung lässt sich nicht starr regeln, sondern will genommen werden. Nur ein ständiger Dialog über Rollen und Funktionen führt zu kollektiver Verantwortungskompetenz. Bei uns haben Menschen Rollen, aber sie sind keine Rollen. Unsere zentrale Frage lautet: Wie gestalten wir den Rahmen der Zusammenarbeit flexibel und klar, damit gemeinsame Ziele erreicht werden können? Bei GS1 leben und arbeiten wir in der Transformation. Wir setzen auf Menschen mit einem Mindset, das Chancen erkennt, neue Wege geht und Verantwortung übernimmt. Hierarchien werden abgebaut, Arbeit passiert in temporären, projektbezogenen Teams. Führung bedeutet bei uns, Impulse zu geben, Freiräume zu lassen, Vertrauen zu fördern. Veränderungen und Schwierigkeiten gehen wir gemeinsam an. Jeder ist eingeladen, die Initiative zu ergreifen, um uns auch für unsere Kunden besser zu machen. Das bedarf eines Arbeitsumfelds, in dem Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen.
Wir arbeiten in einem hybriden Arbeitsmodell und zwar dort, wo ich für den Kunden das beste Ergebnis erzielen, mit meinen Kollegen optimal zusammenarbeiten kann und für mich ein gutes Arbeitsumfeld finde. Das heißt aber nicht, dass ich dort arbeite, wo es für mich am bequemsten ist. Thomas Fell
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Welche Bedeutung hat das Büro als Arbeitsort bei GS1?
Wir arbeiten nach dem Prinzip: Wo können wir am besten für den Kunden wirken? Das erfordert unterschiedliche Arbeitsorte. Das Büro halte ich dabei für sehr wichtig. Gerade wenn ich gemeinsam Zukunft gestalten will, ist das Büro für mich ein guter Ort dafür. Wenn ich am Flipchart oder Whiteboard eine Diskussion führe, um zu klären, was das Beste ist, um ein Ziel zu erreichen, dann mache ich das lieber in Person als virtuell und besser im Büro als zu Hause. Der zweite wichtige Punkt ist: Ein Unternehmen kann ich eben auch nur im Unternehmen selbst erleben und nicht zu Hause. Der dritte Grund ist, und das halte ich für ganz wichtig, obwohl es immer unterschätzt wird, dass man dem Zufall eine Chance gibt und dass man Räume hat für zufällige Begegnungen und sagen kann, „Oh gut, dass ich dich sehe, ich habe da mal eine Frage …“. Da entsteht unglaublich viel, was später Strategie heißt. Und wenn ich diese Räume konsequent zumache, dann verliere ich auch sehr viele dieser spontanen Begegnungen, aus denen tolle Ideen entstehen können. Das sind für mich die drei Gründe, warum es Sinn macht, sich im Büro zu treffen. Das will man jetzt organisieren, indem man mit der Freiheit sehr verantwortungsvoll umgeht.
Wie kommen die Mitarbeiter mit diesem auf Eigenverantwortung basierenden Führungsstil zurecht?
Also fairerweise sind manche Dinge bei uns wirklich radikal anders und verlangen sehr viel Kommunikation, warum und wozu man das macht. Auf der einen Seite geben wir riesige Freiheiten, aber diese Verantwortung muss auch angenommen werden. Nehmen wir das Beispiel, wann, wie und wo ich arbeite. Es gibt Menschen, die verzweifeln daran, die wollen das nicht, die können das nicht. Das kann man ein Stück weit über Führung auffangen und Sicherheit geben. Aber nicht alle mögen das und manche verlassen auch das System.
Was sind deine Top-Hacks für kulturelle Transformation?
Erstens: Überlege dir gut, was du tust. Denn es hat Auswirkungen auf alles. Und es dauert viel länger, als du denkst. Transformation hört nie auf. Am Ende geht die Transformation immer irgendwie weiter. Und es wird Rückschläge geben. Aber es lohnt sich. Transformation braucht auch entsprechende physische Räume. Und zwar mehr als den Kickertisch und den lustigen Loungesessel, sondern ein vielfältiges Arbeitsumfeld, in dem man still arbeiten, kollaborativ arbeiten oder auch in Ruhe ein Telefonat führen kann. Also bilde verschiedene Arbeitsbereiche im Büro ab und gebe den Mitarbeitern die Möglichkeit, den optimalen Raum für ihre Tätigkeit zu finden. Und das können im Laufe eines Arbeitstags durchaus mehrere verschiedene sein.
Thomas, vielen Dank für das Gespräch.