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Rentner – Fachkräfte ohne Job

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IBA Forum: Arbeiten im Alter, © jacoblund / istock
Frank Leyhausen Frank Leyhausen ·
6 Minuten

Trotz Rente arbeiten? Frank Leyhausen, Gründer von AgeForce1, erklärt in einem Gastbeitrag, warum das eine Win-win-Situation für alle Beteiligten ist:

Der Arbeitsmarkt in Deutschland steht unter Druck. Als Grund dafür wird regelmäßig angeführt, dass die Alterung der Gesellschaft die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter reduziert. Das ist mir zu einfach gedacht! In unserer Gesellschaft ist und war das Alter immer mit dem Verlust von Fähigkeiten und Fertigkeiten verbunden. In vielen Unternehmen scheinen die Mitarbeitenden jedoch schon vor Rentenbeginn „zu alt“ zu sein. Zu alt für Fortbildung, Innovationen und Projektarbeit.

Ab wann ist man zu alt für den Arbeitsmarkt?

In einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Appinio von 2022 geben 58 Prozent der 400 befragten Personaler an, dass Bewerber ab einem bestimmten Alter „zu alt“ seien. 28 Prozent der Befragten ziehen diese Grenze bei 60, weitere 20 Prozent bereits bei 55 Jahren.

Aber nicht nur bei der Neuanstellung werden Menschen wegen ihres Alters systematisch benachteiligt und damit diskriminiert, sondern auch an ihrem Arbeitsplatz.

Dass Altersdiskriminierung in Deutschland Konjunktur hat, zeigt die Studie Altersbilder und Altersdiskriminierung vom Dezember 2022. Im Kapitel „Konsequenzen von Altersbildern im Bereich Arbeit“ ist zu lesen: „Aufgrund der Internalisierung des Stereotyps wird diskriminierendes Verhalten von älteren Arbeitenden häufig nicht als solches bewertet. Ein negatives internalisiertes Altersbild kann dazu führen, dass Arbeitende den Beruf früher verlassen […].“ Oder anders gesagt: Stigmatisierende Altersstereotype verstetigen sich im Berufsleben so, dass selbst die Betroffenen sie als normal empfinden.

Vom Platz gestellt!

Im englischen Sprachraum etabliert sich gerade der Begriff „the grey sideline“. Mit dieser „grauen Seitenlinie“ ist gemeint, dass ältere Mitarbeitende aus dem Spiel genommen werden. Das kann beispielsweise damit beginnen, dass man sie für Trainings „übersieht“ oder sie mit sogenannten Sonderaufgaben beschäftigt, die weit unter ihrer Qualifikation liegen.

Die graue Seitenlinie ist eine imaginäre Seitenlinie. Sie hindert Menschen aber sehr real daran, Teil des Teams zu sein und ihren Beitrag zum Erfolg zu leisten. Die Position am Rande oder außerhalb des Spielfelds hat sehr greifbare Konsequenzen für die Person, die an den Rand gedrängt wird, aber auch für das Unternehmen und seine Führungskräfte.

Ältere Menschen – die Babyboomer – genießen am Arbeitsplatz weniger Wertschätzung. Unternehmen lassen sie zu Hunderttausenden in den Ruhestand gehen oder entledigen sich ihrer frühzeitig über Vorruhestandsprogramme. Dass Menschen, die wenig Wertschätzung im Beruf erfahren, das Angebot zum Vorruhestand annehmen, wundert nicht. Was einige Unternehmen jedoch verwundert, ist die Tatsache, dass die Erwerbstätigkeit im Ruhestand auf dem Höchststand ist.

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Wie passt das zusammen?

Viele Menschen stellen nach Monaten im Ruhestand fest, dass der endlose Urlaub nicht so erfüllend ist wie gedacht. 150.000 Tage Freizeit am Stück überfordert viele und führt regelmäßig zur Frage: Wofür stehe ich eigentlich auf?

Der amerikanische Soziologe Robert Atchley beschreibt den Ruhestand als einen Prozess in sechs Phasen: Der Ruhestand beginnt mit dem Honeymoon. Voller Enthusiasmus und einem neuen Gefühl von Freiheit ist es die Zeit, in der lang gehegte Träume und Leidenschaften verfolgt werden. Nachdem die anfängliche Begeisterung abgeklungen ist, stellt sich vielfach ein Gefühl der Ernüchterung ein. Grund dafür ist in der Regel der Verlust der beruflichen Identität und die Einbuße von sozialen Kontakten. Was folgt, ist die Phase der Neuorientierung. 

Diese Neuorientierung führt gerade bei gut ausgebildeten Fach- und Führungskräften zu einer Erwerbstätigkeit im Ruhestand. Als Hauptgründe für ihr Schaffen nennen die „Talente in Rente“ laut IAB-Kurzbericht 8/22: Spaß an der Arbeit, das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und nach sozialen Kontakten.

Bei einer aktuellen Erwerbstätigkeitsquote von 19 Prozent bei den 65- bis 69-Jährigen* und einer Verrentung von 1.000.000 Menschen pro Jahr bedeutet das: Pro Jahr leisten 190.000 zusätzliche Rentner ihren Beitrag in der Wirtschaft. Dieser wird mit durchschnittlich 14,5 Wochenstunden in Teilzeit erbracht. Das sind über 2.700.000 Wochenarbeitsstunden, die genutzt werden könnten. Die Frage ist: Welche Unternehmen gehen dieses Potenzial strategisch an?

*DESTATIS, „Erwerbstätigkeit älterer Menschen“.

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Die drei Rs

Unternehmen sollten beim Kampf gegen den Fachkräftemangel auch die älteren Semester in Betracht ziehen. Dies gilt sowohl für die eigenen Mitarbeitenden am Ende des Berufslebens als auch für Menschen im Ruhestand. Hierzu gibt es im Wesentlichen drei Handlungsoptionen:

Retention

Um Mitarbeitende in der Phase vor dem Ruhestand länger an das Unternehmen zu binden, empfehlen sich sieben bis fünf Jahre vor der Regelaltersgrenze Mitarbeitergespräche. Hierbei gilt es, die Mitarbeiter zu identifizieren, die noch unentschlossen sind, ob sie vorzeitig das Unternehmen verlassen werden. Zur Bindung dieser Fachkräfte müssen konkrete Maßnahmen für die nächsten Jahre vereinbart werden.

Returnships

Für Mitarbeitende, die nach Eintritt in den Ruhestand feststellen, dass sie offen für eine Erwerbstätigkeit sind, müssen Arbeitgeber zwei Dinge sicherstellen:

1. Für Wiederkehrende ist ein systematisches Programm für den Wiedereinstieg ins Unternehmen zu etablieren. Hierbei sind insbesondere die möglichen Arbeitsgebiete zu definieren und arbeitsrechtliche und organisatorische Konzepte zu entwickeln.

2. Dass ein Wiederkommen möglich und erwünscht ist, muss vor Beginn des Ruhestands jedem Mitarbeiter kommuniziert werden. Hierzu eignen sich strukturierte Programme, die Mitarbeitende auf die neue Lebensphase vorbereiten und dabei die Möglichkeiten für eine Erwerbstätigkeit im Ruhestand beschreiben.

Recruiting

Auch beim Recruiting können Akzente gesetzt werden. Viele erfahrene Kräfte werden bisher nur aufgrund ihres Alters nicht in Betracht gezogen.

Der Erfolg all dieser Maßnahmen bedingt eine Grundvoraussetzung: ein realistisches Altersbild im Unternehmen ohne Altersgrenzen, um die Altersdiskriminierung „in Rente“ zu schicken.

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Frank Leyhausen berät seit über 20 Jahren Unternehmen, Behörden und gemeinnützige Organisationen zu den Chancen und Schwierigkeiten einer alternden Gesellschaft. Es geht um Innovation, Kommunikation, Altersdiskriminierung und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. 2021 hat er mit Anja Klute die AF1 GmbH gegründet. Unter der Marke „AgeForce1“ werden digitale und hybride Lösungen für die Ruhestandsplanung entwickelt. Unternehmen bietet das mit dem Deutschen Demografie Preis ausgezeichnete Angebot die Möglichkeit, ausscheidende Mitarbeitende für eine Fortführung der Beschäftigung zu gewinnen. Seine Erfahrungen teilt er auf Konferenzen, z. B. auf der SXSW oder bei den Vereinten Nationen und ist regelmäßig Gesprächspartner für Medien im In- und Ausland. Weitere Informationen unter www.ageforce1.com.

Titelbild: istockphoto / jacoblund